Im Gastkommentar warnt Kristof Bender, derzeit Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen, dass der Europarat zu einem Spielzeug repressiver Staaten werden könne.

Letzte Woche hat sich der Europarat, die wichtigste europäische Menschenrechtsorganisation, entmachtet. Die parlamentarische Versammlung gab Drohungen Russlands nach und nahm – in einer einzigartigen Abstimmung – sich selbst das Recht, eigenständig Sanktionen zu verhängen. Alle österreichischen Mitglieder der parlamentarischen Versammlung stimmten dafür. Für Russland ist die Entscheidung ein riesiger außenpolitischer Erfolg. Für den Europarat ist sie ein Desaster.

2014 annektierte Russland die Krim und verletzte damit klar die territoriale Integrität eines anderen Europaratsmitgliedstaates. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats beschloss damals die selten verhängte, jedoch milde Sanktion einer einjährigen Suspendierung der Stimmrechte der russischen Delegation. Aufgrund Russlands Aktivitäten in der Ostukraine verlängerte die Versammlung die Suspendierung für drei Monate bis April 2015.

Protest gegen die Entscheidung vor der deutschen Botschaft in Kiew.
Foto: APA/AFP/SERGEI SUPINSKY

Boykott, Drohung, Erpressung

Seit vergangener Woche sitzen nun wieder 18 russische Abgeordnete in der Parlamentarischen Versammlung in Straßburg. Das ist nicht das Resultat russischer Bemühungen, den fundamentalen Grundsätzen der Mitgliedschaft wieder gerecht zu werden. Es ist das Resultat von Boykott, Drohung, Erpressung und der Schwäche anderer Mitglieder.

2015, nach der Verlängerung der Suspendierung, brach Russland alle Kontakte mit der Parlamentarischen Versammlung ab. 2016 erklärte Russland, nur dann in die Parlamentarische Versammlung zurückzukehren, wenn die Versammlung ihre Regelungen so ändere, dass sie nie wieder einer Delegation ihre Stimm- oder Repräsentationsrechte verweigern könne. 2017 stellte Russland seine Mitgliedsbeitragszahlungen von jährlich 33 Millionen Euro, etwa sieben Prozent des Gesamtbudgets des Europarats, ein. 2018 drohte Russland, die Organisation ganz zu verlassen, wenn seine Forderungen nicht umgesetzt werden würden.

Um jeden Preis

Man könnte nun annehmen, dass der Europarat, sich über seinen Zweck im Klaren, bereit wäre, den Verlust eines Mitgliedsstaates zu akzeptieren, der seit Jahren systematisch gegen Menschenrechte und die fundamentalsten Regeln der Mitgliedschaft verstößt.

Doch Generalsekretär Thorbjorn Jagland und einige Mitgliedsländer, insbesondere Deutschland und Frankreich, suchten nach einer Lösung, die Russland zufriedenstellen würde. Bei einem Ministertreffen im Mai überzeugten sie die anderen Mitgliedstaaten, dass Russland um jeden Preis im Europarat bleiben muss, und verlangten von der Parlamentarischen Versammlung, den russischen Forderungen nachzugeben.

Unabhängige Sanktionsmöglichkeiten

Vergangene Woche war es dann so weit. Am 24. Juni gab die Parlamentarische Versammlung mit einer Mehrheit von 118 zu 62 Stimmen und zehn Enthaltungen ihre unabhängigen Sanktionsmöglichkeiten auf.

Vier Mitglieder der neuen russischen Delegation sind mit EU-Sanktionen belegt (Einreiseverbot und Einfrieren von Konten und Vermögenswerten in der EU), die aufgrund der Annektierung der Krim verhängt wurden. Eines davon, Leonid Slutsky, erklärte triumphierend, dass die russische Delegation im Europarat nun "keine Sanktionen mehr, egal wie unbedeutend", tolerieren würde.

Autoritäre Tendenzen

Warum stimmte eine Mehrheit der Abgeordneten für diese Kapitulation? Alle anwesenden österreichischen Abgeordneten stimmten dafür: Franz Leonhard Essl von der ÖVP, Doris Bures und Stefan Schennach von der SPÖ, Martin Graf und Axel Kassegger von der FPÖ. Aber auch aus Frankreich, Italien und Spanien gab es keine einzige Gegenstimme.

Das Hauptargument der Befürworter lautet: Die Mitgliedschaft Russlands ist wichtig, um autoritären Tendenzen in Russland entgegenzuwirken und – durch den europäischen Menschenrechtsgerichtshof – russischen Staatsbürgern einen Weg zur Gerechtigkeit vor Gericht offenzuhalten. Einige russische NGOs unterstützen diese Position. Andere nicht. Memorial, eine der respektiertesten Menschenrechtsorganisationen Russlands, sagt, dass "unilaterale Konzessionen ohne irgendeine Änderung der Position Russlands desaströse Konsequenzen für die internationalen Schutzmechanismen haben, die sie schützen sollten".

Prinzipien und Konsequenzen

Russland hat nach Straßburger Urteilen zwar immer wieder (bescheidene) Kompensationszahlungen getätigt, doch niemals die den Verletzungen zugrunde liegenden Probleme beseitigt. Insgesamt hat es nur 40 Prozent der 2.600 gegen Russland gefällten Urteile umgesetzt. Sehr wenige davon betreffen schwere Verletzungen. Weitere 13.000 Fälle sind anhängig (22 Prozent aller Fälle vor dem Menschenrechtsgerichtshof). 2015 beschloss Russland ein Gesetz, das es dem russischen Verfassungsgericht ermöglicht, bindende Urteile aus Straßburg als mit der russischen Verfassung unvereinbar zu verwerfen. Großes Vertrauen können russische Staatsbürger in diesen Rechtsweg also kaum setzen.

Es ist wichtiger, die Standards des Europarats aufrechtzuerhalten als Russland um jeden Preis als Mitglied zu behalten. Wenn Staaten, die die Prinzipien des Europarats grob verletzen, merken, dass es keine Konsequenzen gibt, dann wird der Europarat in die Bedeutungslosigkeit versinken.

Drohende Bedeutungslosigkeit

Dabei ist Russland nicht das einzige Problem. Vor einem Jahr hat eine unabhängige Ermittlung offiziell festgestellt, was lange bekannt war: dass Aserbaidschan für Millionen von Euro Stimmen und Einfluss in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats gekauft hat. Die Versammlung änderte einige Prozeduren, aber es folgten keinerlei Konsequenzen für Aserbaidschan, die im Ministerrat hätten erfolgen müssen.

Der aktuelle Kniefall vor Russland bringt den Europarat einen gewaltigen Schritt näher zur Bedeutungslosigkeit. Warum alle österreichischen Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung dies unterstützen, wäre eine öffentliche Debatte wert.

All das geschieht in einer Zeit, in der es gängig geworden ist, Menschenrechtsnormen und unabhängige Gerichtsbarkeit zu hinterfragen. Europäische Demokratien brauchen eine starke Menschenrechtsinstitution mehr denn je. Das bedeutet, auf Mitglieder, die fundamentale Prinzipien systematisch verletzen, zu verzichten. Sonst verkommt der Europarat zu einem Spielzeug repressiver Staaten. (Kristof Bender, 2.7.2019)