Mit dem Brief des Anstoßes: Joseph Lorenz als Leonidas in "Eine blassblaue Frauenschrift".

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Ein Geist heiterer Verwahrlosung weht durch den Salon. Eine Grammophonstimme plärrt neckische Lieder. Im Hietzinger Haus von Sektionschef Leonidas (Joseph Lorenz) schlürft das Stubenmädchen die Schampusflasche vom vergangenen Abend aus. 1936 steht der schöne Leonidas im Zenit seiner Laufbahn: Der amtierende Kultusminister folgt jedem Vorschlag seines erprobten Staatsdieners blindlings.

Der Beamte selbst hat finanziell steil nach oben geheiratet und kann, von seiner ebenso hennaroten wie kapriziösen Gemahlin (Fanny Stavjanik) nicht über Gebühr drangsaliert, den Schmutz, der in der Luft liegt, sich vom perfekt sitzenden Anzug schnippen. Warum? Weil er es sich leisten kann. Im Theater Reichenau, wo man Franz Werfels Kurzroman Eine blassblaue Frauenschrift etwas vermurkst und verdreht vom Blatt spielt, klebt der Stuck der Innenstadt-Palais nur noch als Fotozitat an den Wänden. Längst verpesten Antisemitismus und Geistesfeindlichkeit das alpenländische Klima.

Und doch hat Werfel (1890–1945), der nach Frankreich verwehte Emigrant, sich sein Heimweh nach Österreich auf die vertrackteste Weise von der Seele geschrieben. Seine Frauenschrift ist der einschlägigen Seitensprung-Literatur tief verpflichtet. Der unverhofft eintrudelnde Brief einer Jugendliebe raubt Leonidas für die Dauer eines einzigen Herbsttages den Verstand und das Gefühl bürgerlicher Sicherheit. Es ist ein Fall ins Bodenlose.

Frage nach der Mitschuld

Hierin ist das von Axel Corti verfilmte Erzählwerk den großen Texten Schnitzlers und Zweigs an die Seite zu stellen. Ein Jude befragt einen törichten Durchschnittsmenschen – über den Umweg einer perspektivenreichen Erzählung – nach dessen Mitschuld. Leonidas kann von der heraufziehenden Nazi-Barbarei vielleicht nicht alles wissen. Aber er kann sich seiner jüdischen Geliebten gegenüber noch nachträglich wie ein Schwein verhalten.

Sie (Stefanie Dvorak) bittet brieflich, 18 Jahre nach dem letzten Stelldichein, um die Förderung eines "begabten jungen Mannes". Leonidas fällt aus allen Wolken, weil er mutmaßt, der angehende Maturant sei den eigenen, gesetzlich schon dem ehelichen Gebrauch vorbehaltenen Lenden entsprossen.

Und weil Regisseur Julian Pölsler auf die Bühnenfassung von Nicolaus Hagg angewiesen ist, hüpft die Reichenauer Aufführung wie ein verspieltes Kätzchen vor und zurück. Das eine Mal wähnt man sich in einen heiteren Ehekrieg involviert. Das andere Mal erscheint die verflossene Geliebte wie eine Spukgestalt hinter den Spiegeln. Zu allem Überfluss hat Hagg der Frau von Leonidas einen leibhaftigen Bruder (Alexander Rossi) hinzugedichtet. So lassen sich bequem notwendige Erklärungen in gähnend langweilige Frühstücksdialoge zerlegen. Ein Witz, ein Brüller: "Du hast mit dem Bundeskanzler gesprochen?" – "Ja. Kurz."

Der Minister (Thomas Kamper an Stelle des kürzlich verstorbenen Peter Matić)? Ein Schwätzer mit narkoleptischer Schwäche. Das ist aller Ehren wert, weil es die Unehre eines heimischen Menschenschlags betont. Leonidas gleitet wie ein Jahrgangsbester der Tanzschule Elmayer über den Nährboden des Totalitarismus hinweg. Von zwingendem Ernst ist der Abend deshalb nicht. (Ronald Pohl, 2.7.2019)