Es hat sich Energie angestaut: Jamie Cullum hat fünf Jahre für die neue CD gebraucht.

Foto: Jean-Christophe Bott/Keystone

Manch neue CD bedarf der Verzierung durch eine Story abseits der Musik: Bewältigte Katastrophen schmücken den Tonträger emotional. Auch die Geschichte vom Künstler im schmerzhaften Infight mit seinen Dämonen und Lebensfragen vermag stützende Marketingdienste zu leisten. Und so kommt auch der britische Barde Jamie Cullum nicht umhin, einiges zu erzählen, um seiner Neuheit Taller existenziell bedeutsames Flair zu verleihen.

Also: Lange fünf Jahre hat die Plattenfirma Universal auf ein Lebenszeichen ihres Künstlers warten müssen. Der Multi tat es geduldig und gerne. Der Junge mit der Strubbelfrisur musste schließlich reifen, sich neu sortieren, Entschleunigung war angesagt. Es galt, sich als nunmehriger Vater über die Welt als solche und die eigene künstlerische Identität im Klaren zu werden. Es schlummerte in Cullum nämlich auch ein Songschreiber, der sich nach Tageslicht sehnte. So das Märchen, das Taller beigelegt wurde.

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Dass sich Cullum für diese poppige Neuheit Zeit nahm, zeugt allerdings auch von guter Selbsteinschätzung. Wer live dynamische Figur macht und wie Cullum einen kommerziell einträglichen Jazzstatus genießt, kann sich komponierend als Niete erweisen und schnell auf das Desinteresse jener stoßen, die ihn zuvor bejubelten. Schließlich wurde Cullums Karriere durch die Interpretation alten Materials befeuert: Mit der Einspielung Twentysomething präsentierte sich der 1979 in Essex Geborene einst mit Klassikern wie I Get a Kick Out of You oder Old Devil Moon als lebende Jukebox des Great American Songbook.

Der Retrotrend

Cullum wirkte als Junge, aus dem Väter und Großväter sangen, die Sinatras und die Bennetts. Mit einem individuellen Timbre, in dem sich ein Hauch von Billy Joel rauchig mit der Nostalgie eines Crooners der 1960er mixten, passte Cullum zudem elegant zu jenem Retrotrend, der ausgehend von Sängerin Diana Krall Jazziges in die Hitparade hievte.

Gegenwärtig sind in diesem Marktsegment auch Madeleine Peyroux, Michael Bublé und Gregory Porter nostalgisch und erfolgreich unterwegs. Bemerkenswert: Was der sympathische Popclown Robbie Willimans einst mit Swing When You’re Winning als kleinen Ausflug in die Sintara-Ära inszenierte, ist bei den Retrokünstlern in puncto Karriere ein Überlebenskonzept.

Zweifellos jedoch war Cullum schon zu Beginn etwas anders als die kollegialen Jazznostalgiker. Er coverte auch Jimi Hendix; The Wind Cries Mary wurde ein smartes Beispiel der Reduktion eines Songs auf dessen intimen Kern. Auch ist der Junge live so munter unterwegs, als hätte er sein Handwerk in einer Boyband erlernt. Jamie hüpft gerne auf Klavier und Boxen herum und war schon rappend zu erleben. Er ist ein flexibler Entertainer Marke Crossover.

Pop, Funk und Soul

Nur am Ende seiner CD, bei Show Me The Magic, swingt es Bigband- und streicherlastig. Taller ist dennoch kein aufgesetzter Versuch, sich aus der Jazzecke zu befreien: Der Opener Taller – er ist mit schweren Grooves versehen und erinnert an Stevie Wonder – verfügt sogar über Hitcharme. Der Rest, welcher Pop, Funk und Soul bemüht, ist dann auch durchaus von grundsolider Machart. Ein Problem: Gerne starten Songs quasi privat mit Cullum im Wohnzimmer am Klavier, schwellen jedoch mit Orchester und Chor an zum Bombastformat. Unnötig.

Die Popgeschichte muss also jetzt nicht gleich umgeschrieben werden. Aber Cullum ist ein Talent, und das mit der Grenzen zwischen Pop und Jazz ist auch nicht so humorlos zu nehmen: Auch ein Bobby McFerrin (in der Staatsoper beim Jazzfest Wien am 8.7.) hat es unbeschwert in die Charts geschafft, ohne sich zu verbiegen (Don’t Worry, Be Happy). Und andere ehrenwerte Retrojazzer wie José James (8.7. im Porgy & Bess) würdigen nicht nur Billie Holiday, sondern neuerdings auch Soulklassiker Bill Withers.

Bis Cullum allerdings etwa mit einem Withers gleichzieht, wird es dauern, obwohl seine Komponiermethode hingebungsvoll scheint. "Ich sitze herum und warte ewig auf Inspiration. Wenn eine Idee auftaucht, versuche ich sie dann so schnell wie möglich zu vertiefen. Es ist ein bisschen so, als würde man eine Fliege mit einem Glas fangen." Auch schreibe er, "damit ich lerne, was ich denke...". Klüger werden durch Komponieren – auch ein Weg. Wohin er geführt hat, hören Sie in der Wiener Staatsoper (9.7.).

Der britische Retrojazzer Jamie Cullum kommt mit seinem neuen Album "Taller" in die Staatsoper zum Jazzfest Wien. Allerdings ist es mehr dem Pop, dem Soul und dem Funk zugeneigt. (Ljubiša Tošic, 3.7.2019)