Der Fall der Kapitänin Carola Rackete führt unweigerlich zu der Frage: Soll man Menschen vor dem Ertrinkungstod retten, wenn man die Möglichkeit dazu hat? Die Antwort ist eindeutig: Ja, man soll, nein, man muss. Alles andere ist zutiefst menschenverachtend und zynisch. Doch die Situation im Mittelmeer ist weit komplexer.

Demonstranten fordern die Freilassung der Kapitänin Carola Rackete.
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Bleiben wir zunächst bei Rackete. Sie beruft sich unter anderem auf das Nothafenrecht, das Schiffen das Anlaufen in Häfen auch ohne Erlaubnis ermöglicht, wenn Menschenleben in Gefahr sind. Rackete zufolge waren die geretteten Menschen kurz davor, ins Meer zu springen, um Festland zu erreichen. Da die meisten Nichtschwimmer seien, so die Deutsche, hätte das ihren sicheren Tod bedeutet. Es lässt sich objektiv nicht beurteilen, was genau sich an Bord des Schiffes abgespielt hat, es wäre Spekulation.

Tatsache ist, dass sich zunächst 53 gerettete Menschen an Bord befanden. 13 von ihnen konnten aufgrund gesundheitlicher Gebrechen schon vorab an Land gebracht werden. Das muss Italien zugutegehalten werden.

Dazu hatte Rackete, als sie die Menschen rettete, die Möglichkeit, diese Menschen ins zu diesem Zeitpunkt näher gelegene Libyen zu bringen. Allerdings sind die unmenschlichen Zustände in den dortigen Lagern bekannt. Rettungsschiffe berufen sich auf das Seerecht, dass Gerettete an einen sicheren Ort geleitet werden müssen. Das sei ihrer Ansicht nach in Libyen nicht der Fall. Erwiesenermaßen drohen Menschen in den libyschen Lagern Folter, Sklaverei, Vergewaltigung und Mord. Dennoch meinen Gegenstimmen, die Geretteten sollten besser zurück nach Libyen gebracht werden – dort können sie immerhin nicht ertrinken.

Letzten Endes läuft es im Mittelmeer aber auf die folgende Frage hinaus: Kann man das Leben von Menschen in Gefahr bringen, wenn damit erreicht wird, dass viele mehr davon abgehalten werden, überhaupt in diese gefährliche Situation zu geraten? So argumentieren jene, die die NGO-Schiffe als Anreiz für Flüchtlinge betrachten, überhaupt erst das Wagnis der gefährlichen Überfahrt einzugehen. Tatsächlich sind die absoluten Todeszahlen im Mittelmeer 2018 zurückgegangen. Die Gründe dafür sind nicht eindeutig auszumachen, eine Blockade der Rettungsschiffe ist dabei zumindest nicht auszuschließen.

Auf den Punkt gebracht: Beide Seiten reklamieren für sich, Leben zu retten. Beide liegen dabei zumindest nicht nachweisbar falsch. Das ist das Dilemma im Mittelmeer. (Kim Son Hoang, 2.7.2019)