Vernünftig? Nein, vernünftig war das natürlich nicht. Vernünftig wäre es gewesen, das Rennen abzubrechen. Zu akzeptieren, dass das heute nichts wird. Stehen zu bleiben, mich auf eine Parkbank oder einen Flecken Gras zu setzen und tief durchzuatmen. Aus. Na und? Es gibt solche Tage. Man braucht dafür keine Ausreden oder Entschuldigungen: So was kommt vor. Und wenn es passiert, wenn der Mann mit dem Hammer zuschlägt und den Stecker so zieht, dass schlagartig keine, wirkliche keine Kraft, keine Energie und – das vor allem – keine Motivation mehr da ist, ist es keine Schande, vernünftig zu sein. Und anzunehmen, dass dieser Tag so endet, wie er enden sollte: DNF – did not finish. Das wäre vernünftig.

Thomas Rottenberg

Andererseits. Andererseits ist es per se nicht vernünftig, 3,8 Kilometer zu schwimmen, dann 180 Kilometer Rad zu fahren und dann noch 42 Kilometer zu Fuß dranzuhängen: Es gibt keinen plausiblen Grund für eine Triathlon-Langdistanz. Es ist unnötig. Es ist nicht gesund. Es tut weh. Und es macht währenddessen irgendwann auch keinen Spaß mehr. Oh nein!

Das ist nicht vernünftig, sondern eben Triathlon in der Langdistanz-Variante: 225,8 Kilometer. Aus eigener Kraft. En bloc. Meist Ironman genannt – obwohl das eigentlich bloß ein Markenname ist.

Egal, denn vor allem ist es die Hölle. Auch und sogar, wenn es einem dabei gutgeht. Und mir ging es vergangenen Sonntag in Klagenfurt beim Ironman Austria nicht gut. Sehr plötzlich, aber dafür umso übler.

Thomas Rottenberg

Bleiben wir bei der Vernunft: Wer vernünftig Sport machen will, tritt nicht bei einem Ironman an. Schon gar nicht ein zweites Mal. Wer es dennoch tut, braucht eine Diskussion deshalb nicht zu führen: die, ob es nicht vernünftig wäre aufzuhören, wenn nichts mehr geht. Wirklich nichts: Wenn die Füße plötzlich Tonnen wiegen. Wenn sich das Amalgam aus Trägheit und Schmerz von unten, den Beinen, aufsteigend mit den Dämpfen aus Verzweiflung und Resignation mischt, die aus Herz und Seele strömen. Denn dieses Gemisch wird im Kopf zu einem tödlichen, schwarzen, vernichtenden, endlosen Mantra: "Gib auf. Lass es. Es ist sinnlos. Du wirst nicht ankommen. Du hast keine Kraft mehr. Du willst es auch nicht. Es liegen noch 30 Kilometer vor dir. Du kannst nicht mehr. Das schaffst du nicht. Keine Chance. Das schafft keiner. Gib auf …"

Neben dem Weg steht eine Parkbank. Unten glitzert die Sonne im Lendkanal: Aufgeben ist ganz einfach. Es tut nicht weh. Im Gegenteil. Stehen bleiben. Hinsetzen. Fertig. "Warum quälst du dich?"

Distlberger

Neben der Bank, auf dem Weg vom Zentrum Klagenfurts den Landkanal entlang zum Wörthersee, hat jemand etwas hingesprayt. "Die Grenze ist dein Wille." Oder so ähnlich. Mein Wille? Was wollte ich? Also wirklich. Warum war ich hier? Hatte ich ein halbes Jahr lang auf diesen Tag hingearbeitet, um dann aufzugeben? War ich heute bei wegen der hohen Wassertemperatur vollkommen zu Recht verhängten Neopren-Wetsuit-Verbots diese vier Kilometer geschwommen, um mich jetzt auf einer Parkbank mit Blick auf den Lendkanal auszurasten? Obwohl ich keiner jener 500 (von 4.000 insgesamt Angemeldeten) war, der deshalb gleich nicht beim Start erschienen war? Den Grund der 500 kenne ich: Neopren wärmt nicht nur, es gibt Auftrieb. Kein Neo macht Schwimmen also anstrengender. Sich für einen Bewerb anzumelden, ohne sicher zu wissen, ihn – wenn nichts Unerwartetes passiert – auch ohne Neo und mit Sicherheitsreserve schwimmen zu können, ist fahrlässig. Aber eine andere Geschichte. Diese Geschichte aber handelt von etwas anderem: vom Aufgeben. Vom leichten Weg.

Distlberger

Denn war ich tatsächlich 180 Kilometer mit mehr als 30 km/h über 1.400 Höhenmeter, durch Unwetter und durch halb Kärnten geradelt, um jetzt Blümchen und Entchen anzuschauen? Hatte ich auf den letzten 20 Radkilometern vom Rupertiberg nach Klagenfurt in einem der heftigsten Hagelstürme, die ich je – und dem heftigsten, den ich ich im Freien – erlebt habe, im absoluten Blindflug steil bergab, durch wadeltiefe Schlammsturzbäche quer über die Straße, bei Windböen, die mich um eine ganze Autospur versetzten, in einem Sturm, der jedem und jeder hier abgebrochene Zweige um die Ohren – und schlimmer – und vor die Reifen schnalzte, tatsächlich die Kälte und die Angst vor dem Wegrutschen und Getroffenwerden besiegt, um jetzt kontemplativ zu chillen?

Distlberger

Und hatte ich dem Spanier, der nach dieser Höllenabfahrt – von der es kein einziges Foto gibt, weil der Rupertiberg für Fotografen zu weit vom Schuss ist und eigene Kameras beim Triathlon verboten sind – in der Wechselzone in Thermofolien gepackt vor Schock, Nässe und Kälte zitternd und heulend und vor Schock weit aufgerissenen Augen minutenlang nicht einmal seine Muttersprache verstanden hatte, Mut zugesprochen, um jetzt selbst keinen zu haben?

Hatte ich ihn angelogen, als ich ihm in allen Sprachen der Welt zu sagen und deuten versuchte, dass jetzt alles gut sei, weil einer, der diesen Ritt durchsteht, sich vor einem Marathon im Flachen nicht fürchten müsse? Hatte ich mich also selbst belogen? "Die Grenze ist dein Wille" stand da. Oder so ähnlich. Was wollte ich wirklich? Den einfachen Weg? Aufgeben? Seriously?

Distlberger

Ich ging an der Bank vorbei. Auch an der nächsten. Der übernächsten. Am Lendkanal stehen viele Bänke. Aber auf keiner stand mein Name. Ich ging, denn Laufen ging nicht. Nicht mehr. Keine Chance. Wieso? Keine Ahnung. Oder vielleicht doch?

Bis (Lauf-)Kilometer zwölf war bei diesem Ironman doch alles nicht nur gut, sondern perfekt gelaufen: Schneller Schwimmer (wie mein Teamkollege Sebastian Herzig, hier im Bild) wird in diesem Leben keiner mehr aus mir. Aber je öfter ich ins Wasser gehe, umso mehr Freude macht es mir. Mittlerweile sogar in der Masse eines Triathlons: weit hinten und weit außen. Sogar im sonst so elenden Lendkanal-Gedränge war es halbwegs erträglich.

Herzig

Auf dem Rad überraschte ich mich dann selbst: Sogar mit Unwetter knackte ich die Sechs-Stunden-Mauer locker. Ohne Starkregen und Sturm wären da zehn, vielleicht sogar 15 Minuten mehr drin gewesen. Und hätte ich in der Wechselzone nicht zehn Minuten zum Nicht-mehr-vor-Kälte-Scheppern (ich brauchte allein drei Versuche, um in die Socken zu treffen, und anderen ging es noch schlimmer) gebraucht, hätte der zweite Wechsel wohl deutlich kürzer als eine Viertelstunde gedauert.

Distlberger

Auch das Laufen begann nach Plan. Auf der Radstrecke hatte ich meinen Teamkollegen Markus im Hagel getroffen. Gemeinsam hatten wir uns in die Wechselzone gerettet. Markus ist der stärkere Radfahrer und Läufer. Klagenfurt war sein 43. Triathlon, aber seine erste Langdistanz. "Nach dieser Abfahrt ist mir Zeit egal. Das war so hart, dass einfach nur das Durchkommen zählt", sagte er – also liefen wir gemeinsam.

Mein Plan: Anlaufen mit 6er-Pace (also sechs Minuten pro Kilometer), wenn das gutgeht, eventuell steigern. Maximal auf 5'30". Weil ein Marathon lang ist. Weil sich die 180 Kilometer Aufwärmtraining auf dem Rad dann irgendwann melden.

Der Plan ging auf. Markus und ich mussten einander immer wieder bremsen, um nicht zu früh zu schnell zu werden. Irgendwann trennten wir uns aber doch. Ich war einen Tick schneller. Langdistanzen – nicht nur im Triathlon – sind Übungen in gelebter Selbstdisziplin. Laufen wird da schnell zu Abschießen.

Distlberger

Ich lief gut. Locker, zügig und konstant. Den See entlang Richtung Krumpendorf. Vorbei an den Freunden am Streckenrand. Den schnelleren und Spitzenläuferinnen und -läufern entgegen, die nicht nur wegen ihrer früheren Schwimmstarts gewaltige Vorsprünge auf uns herausgeholt hatten. Daniela Ryf oder Daniel Bäkkegard, die späteren Sieger, verfehlte ich zwar knapp, aber dass mir neben vielen Bekannten Jacqueline Kallina (hier im Bild) entgegenkam, freute mich: Jacqueline läuft, schwimmt und trainiert mit uns im Team. Klagenfurt war ihre erste Langdistanz. Dass sie da trotz ihres schweren Sturzes bei unserer Siteinspection vor zwei Wochen siebentbeste Frau (inklusive der Profis) und beste ihrer Altersklasse (sie startet ja nicht im Feld der geladenen Elitestarterinnen) wurde und sich den dritten Platz der österreichischen Triathon-Staatsmeisterschaften holte, machte mich fast so stolz wie sie happy. Ganz nebenbei qualifizierte sich Jacqui am Sonntag in Klagenfurt auch für Hawaii – den "großen" großen Ironman.

Distlberger

Doch dann legte jemand oder etwas den Schalter um. Bei Kilometer zwölf. Von 100 auf null in der Sekunde. Aus der Komfortzone in den Abgrund. So als würde mir jemand die Luft abdrücken und dabei auch die Beine wegziehen. Laufen? Ging nicht. Gehen? Gerade noch. Ich nahm ein Gel aus der Tasche. Aber als ich das schwarze Packerl sah, wusste ich, dass ich das nicht runterbringen würde. Nie und nimmer.

Meistens hilft Gehen. Dann Antraben. Heute nicht. Keine Chance. Noch einmal. Nichts. Da war Blei in meinen Schuhen. Der Stecker war raus. Ich spürte und wusste: Das war es jetzt. Over and out. Ich wollte es nicht wahrhaben. Trabte immer wieder an. Sinnlos. Und dann kam, was kommen musste: Der Köper revoltierte. Sagte mir, dass ich nicht weiter gegen ihn arbeiten soll. Die kleinen Krämpfe in Waden und Zehen waren nur ein Vorgeschmack. Als ich die Warnungen ignorierte, ging es im Kopf los: "Schau auf die Uhr! Noch 30 Kilometer! Sinnlos! Lass es! Gib auf!"

Herzig

Ich ging trotzdem. Und rechnete. 30 Kilometer noch. Neun bis zehn Minuten brauche ich gehend pro Kilometer. 30-mal neun? 270. Viereinhalb Stunden. "Lass es! Das bringt nichts! Gib auf!" Plötzlich brannten die Fußsohlen. Die Fesseln ächzten. Die Sprunggelenke jammerten. Ich ging. Die Zuschauer am Streckenrand feuerten mich an. So wie jeden und jede – nicht nur die führende Daniela Ryf (hier im Bild). Wenn beim Ironman wer geht, hagelt es Anfeuerungen: "Tom, Du schaffst das! (Auf den Startnummern steht groß der Vorname, Anm.). Tom, Du schaust gut aus! Tom, locker anlaufen – und dann dranbleiben!" Ich wusste, dass das gelogen war: Ich sah drein und aus, wie ich mich fühlte. Sobald ich nur daran dachte, anzulaufen, wurde mir übel. Ich wusste: Das waren Schutzversuche aus dem Kopf. Aber ein Krampf fühlt sich immer wie ein Krampf an.

Ich ging. Noch 29 Kilometer. Immerhin: Eine 8:45er-Pace. Vorbei an Parkbänken und Liegewiesen. Aus dem geplanten und bis soeben noch realistischen Sub-zwölf-Stunden-Ironman wurde der längste und härteste Tag meines Lebens. "Lass es! Warum tust du das?" Weil ich weiß, dass ich es kann – auch wenn ich es gerade nicht spüre.

Distlberger

Ich ging. Läufer überholten mich. Kamen mir – man läuft in Klagenfurt zweimal die Runde Krumpendorf–City–Strand – wieder entgegen. Die sahen mich fragend an: "Ist das dein Ernst? Du bist noch in der ersten Runde." Der Strand – wie schön wäre es jetzt dort! Zuseher brüllten. Eine davon war Barbara Tesar. Sie ist Kopf der Rennrad-Camps Istria Bike und hat gerade Österreichs härtesten Triathlon gewonnen, den Austria Extreme. "Was ist los?" Ich war gerade – zum wievielten Mal eigentlich? – knapp davor, mich auf den Boden zu legen. Wollte heulen. Oder schlafen. Aber mich nicht bewegen. Noch 27 Kilometer! Ich versuchte jovial zu wirken. Antwortete Barbara: "Solche Tage gibt es eben." Barbara nickte. "Ja. 'Solche Tage' gibt es. Aber heute ist kein 'solcher Tag'."

Distlberger

Ich ging. Freunde und Bekannte überholten mich. "Was ist los?" Lasst mich einfach in Ruhe. Seht ihr nicht, dass ich gehe? Kümmert euch um euch selbst. Noch 26 Kilometer.

Nina holte mich ein. Ihr ging es auch nicht gut. Sie hatte sich im Hagelsturm zehn Minuten irgendwo untergestellt – und war komplett ausgekühlt. Nina war vor Kälte immer noch schwindlig. Sie war trotz des Laufens eiskalt. "Jemand hat den Stecker gezogen." Langsam dämmerte mir, was mich ausgeknockt hatte: die Kälte. Ich war schlotternd wie ein Schlosshund durch den Regen gefahren. Zittern ist schnelles Muskelzucken. Der Körper versucht, sich warmzuhalten. Verbrennt dabei schnell viel Energie. 30 oder 40 Minuten im eisigen Regen und Wind im dünnen Schwimmeinteiler hatten ihren Preis. Einen verdammt hohen: Das kommt nicht mehr zurück. "Gib auf! Lass es!"

Nina ging jetzt auch, konnte meine Geh-Pace aber auf Dauer nicht halten. Wir rechneten: 25 Kilometer. Bei zehn, elf Minuten pro Kilometer macht das … Nina wurde noch blasser. "Oh Gott." Soll ich bei dir bleiben? "Nein, geh." Sicher? "Ja, Bitte geh." Ich ging.

Distlberger

Es waren die längsten 30 Kilometer der Welt. "Gib auf. Lass es." Die Stimmen wurden nicht leiser. Wurden zum Kanon. Zum Choral. Mein Körper foppte mich mit Schmerzen und Schwächewellen. Weigerte sich, Nahrung anzunehmen. Ich zwang mich mit Gewalt zu Cola an jeder Labestation. Normal tue ich das ab Kilometer 35 – wenn überhaupt. Zucker und Koffein pushen – man darf dann aber nicht mehr aufhören nachzulegen. Kohlensäure bläht. Deshalb streckt man das ohnehin schal-laue Cola mit Wasser. Elend, aber effizient. Für ein paar letzte Kilometer geht das. Ich hatte noch 24 Kilometer. Geh-Pace: 8'45". "Schau, da wäre eine Bank. Es ist ganz einfach: Setz dich hin!" Ich ging – und war froh, wenn sich ein bisserl Tunnelblick und Dizziness einstellten. Um Energie zu sparen, fährt der Körper in solchen Situationen alles, was er gerade nicht braucht, aufs Versorgungsminimum herunter. Das verändert auch die Wahrnehmung. Trance funktioniert – grob vereinfacht gesagt – so. Ich ging. Trotzdem: "Sinnlos! Wem willst du was beweisen? Lass es."

Distlberger

"Wie hatte der Spruch gelautet? "Mein Wille ist meine Grenze"? Oder umgekehrt? Egal. Diese Strecke, würde mich nicht abwerfen. Nicht heute. Dann hätte ich mich beim Radfahren wirklich in eines der Häuser am Rupertiberg flüchten oder in der Wechselzone bleiben können. Jetzt würde ich das hier durchziehen. Fertig machen. Ankommen. 20 Kilometer. Lieber nicht rechnen – nur gehen. Pace? 8'50". Nein, nicht rechnen! Natürlich rechnete ich. "Lass es!"

Zu sagen, dass es besser wurde, wäre gelogen. Aber ich lernte: Konstanz und Gleichmäßigkeit halten aufrecht. Änderte ich Tempo oder Rhythmus nur geringfügig, wurde mir schwindlig. Dann wurde das Aufgebenwollen lauter. Versuchte, die Chance zu nutzen. Ein paar Leute am Streckenrand erkannten, was ich tat. Barbara Tesar etwa. "Ah, Powerwalking", lachte sie, als ich wieder mal vorbeikam. Meinen Vereinskollegen und Freunden an und auf der Strecke hatte ich irgendwann gedeutet, mich in Ruhe zu lassen. Freunde verstehen so etwas. Ich ging, weil auch ein Fahrrad fährt, solange es sich bewegt. Nur nicht stehen bleiben!

Distlberger

Die letzten sieben Kilometer (eine Stunde!) war ich nicht mehr ausschließlich überholt worden. Ich überholte auch. Geher. Manchmal sogar Läufer. Steher. Sitzer. Ging an Läuferinnen und Läufern vorbei, die von Krämpfen geschüttelt am Streckenrand versuchten, die Schmerzen zu besiegen. Zwei übergaben sich synchron. Die Rettung fuhr vorbei. "Schau hin! Ist es das wert? Worum geht es hier? Lass es!" Nein, liebe Sanis, so gut es ist, dass ihr hier überall seid: Ich bin nicht euer Kunde. Nicht heute. "Aber es wäre so einfach! Was hast du denn davon?" Irgendwo stand "Umdrehen wäre jetzt auch blöd". Ein Klassiker. "Nicht umdrehen: Hinsetzen! Dann ist es vorbei!"

Dann kam die vorletzte Kilometermarke: 40 Kilometer. Das Tosen aus dem Stadion hatte ich zwar ständig im Ohr gehabt – aber jetzt wurde es lauter. Lauter als die Stimmen, mit denen ich 30 Kilometer gekämpft hatte. Endlich.

Distlberger

Das Stadion. Die Ironman-Macher wissen, wie Dramaturgie und Choreografie gehen. Platzieren das Ziel bewusst so, dass man immer wieder dran vorbeikommt. Ein Sehnsuchtsort. Ein Zuhause. Auf dem Weg dorthin fällt plötzlich alles von mir ab. Von allen rund um mich. Plötzlich lachen wir. Strahlen. Sind die glücklichsten Menschen der Welt. Laufen los: leicht, locker, schwerelos. Waren da je Schmerzen?

Distlberger

Wie biegen neben der Bühne ins Stadion ein. Sehen und erkennen unter den Hunderten oder Tausenden punktgenau die Freunde und die Menschen, die wir lieben. Die uns lieben. Die sind jetzt da. Unseretwegen. Für uns. Mit uns. Das zählt.

Distlberger

Das Zielstadion ist eine letzte, allerletzte, kurze Schleife. Roter Teppich. "Tom, du hast es geschafft!" brüllt der Moderator. Zwischen den Cheerleadern eine kleine Rampe hinauf. Zielbogen. "You are an Ironman!" Manchmal ist Pathos wunderschön.

Hinter den Volunteers mit den Medaillen ein vertrautes Gesicht. Harald. Mein Coach und Teamchef. Wie immer bei Rennen in Anzug und Krawatte. "Der Jogi Löw des Laufens" schießt es mir durch den Kopf. Wieso fällt mir das gerade jetzt ein? Und wie hat er es angestellt, hier oben stehen zu dürfen? Steht der echt da, seit Jacqui im Ziel ist? Das muss mindestens vier Stunden her sein … Ein Volunteer will mir die Medaille umhängen. Harald nimmt sie ihm ab. Hängt sie mir selbst um. Mir kommen jetzt doch noch die Tränen. Aber das ist okay. "Scheiße, hat das wehgetan", stammle ich. Harald hält mich. "Aber Du hast es trotzdem durchgezogen. Und das zählt."

Harald Fritz/ www.ausdauercoach.at

Draußen sind dann alle anderen. Alle, die mich überholt haben. Alle, die angebrüllt, angefeuert haben. Alle, die mitgezittert haben. Alle, die den ganzen Tag damit verbracht haben, auf der Tracker-App zu schauen, wo wer gerade ist. Und deshalb ganz genau wussten, wie es uns gerade ging. Im Guten wie im Schlechten: im Wasser. Im Hagel. In der Hölle.

Ich will auf meine Uhr schauen. Irgendwer in meinen Teamfarben (ist es Markus?) drückt mir sanft den Arm runter: "Vergiss das. Wir haben alle gesehen, was da draußen los war. Aber Du hast trotzdem nicht aufgegeben. Nur das ist wichtig."

Ich schaue in ein Dutzend Gesichter. Nein, das ist nicht bloß so dahingesagt. Kein Trost für eine schlechte Zeit: Das kommt aus den Herzen. Diese Leute meinen das wirklich so.

Langsam beginne ich zu verstehen, was da heute passiert ist. Wen – und vor allem was – ich besiegt habe. Mich selbst. Aber anders als je zuvor.

Auch wenn das alles andere als vernünftig war.

Pusch

Auf dem Weg zum Bike-Checkout ist es schon dämmrig. Wir kommen noch einmal an der Laufstrecke vorbei. Immer noch sind Läuferinnen und Läufer hier unterwegs. Etliche sogar noch auf der ersten Runde. Wir brüllen sie an. "If we can do this, so can you!" Manche ringen sich noch ein Lächeln ab.

Ich denke an den zitternden Spanier in der Wechselzone. Ich glaube nicht, dass die Sanis ihn dann noch auf die Laufstrecke gelassen haben: Manchmal ist es dann nämlich doch gut, vernünftig zu sein. Oder zur Vernunft gebracht zu werden.

Diese Geschichte ist für ihn. (Thomas Rottenberg, 10.7.2019)


Epilog: Der Marathon dauerte für mich 5:35 Stunden. Das sind 8:06 Minuten pro Kilometer. Ich habe bis jetzt nicht einmal nachgeschaut, welchen Platz ich belegt habe: Es spielt keine Rolle.

Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Zwei der vier Nächte im "Feel Good Boutique Hotel Egger" in Krumpendorf wurden von der Kärnten-Werbung übernommen.

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Distlberger