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Stephen Baxter ist die seltene Ehre zuteilgeworden, eine Storysammlung ins Deutsche übersetzt zu bekommen – hierzulande sind die Verlage ja noch stärker auf Romane, Romane, Romane fixiert als im englischsprachigen Raum. 17 Kurzgeschichten aus den Jahren 2008 bis 2013 sind in "Obelisk" enthalten und in vier Themenblöcke untergliedert. Mehrheitlich haben sie in der einen oder anderen Form einen Alternativwelthintergrund; der Name Londres taucht hier öfter auf als London.

Andere Welten

Ein Highlight aus dem Themenblock "Andere Vergangenheiten" ist "Der Mars bleibt bestehen". Da glauben wir uns zunächst in eine spezielle Sonderform von Alternativweltgeschichten versetzt – nämlich die, in der sich die Natur selbst anders gestaltet als in unserer Welt. Im konkreten Fall wird in den 1960er Jahren entdeckt, dass auf dem Mars tatsächlich Wälder wachsen, wie man sich das einst erhofft hat. Doch wird Baxter dafür eine wissenschaftlich plausible Erklärung aus dem Hut zaubern – und die sorgt dafür, dass das gierige Wettrennen um die Kolonisierung des Mars in eine bittere Ironie mündet. Ausgefuchst! Eine solche Baxter-typische Kontextualisierung wird es später übrigens auch im vergnüglichen "Vacuum Lad" geben. Das ist zwar – wie schon der Titel vermuten lässt – eine Superheldengeschichte, aber die Erklärung für die betreffende Superkraft ist dann doch ein bisschen besser als ein radioaktiver Spinnenbiss.

Das episodisch aufgebaute "Eagle Song" dreht sich um einen flackernden Stern, der im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder gesichtet wird – doch erst im 20. erkennt man, dass es sich dabei um ein Lasersignal von Außerirdischen handelt. Das wird den Verlauf der Geschichte ändern – und für den Weg, den sie nun einschlägt, ist es überaus symbolträchtig, dass die Beatles darauf verzichten, "All You Need Is Love" zu singen. Weniger spannend sind "Das niemals blinzelnde Auge" (die Inka erobern Europa) und "Das Schicksal und die Feuerlanze" (über ein Attentat am Vorabend des Ersten Weltkriegs mit etwas anderen Machtblöcken). In beiden Fällen ist der Krimi-Plot nur ein Vehikel, damit die Hauptfiguren in Was-wäre-wenn-Gesprächen über den Zufallscharakter des Geschichtsverlaufs philosophieren können.

Dass man die Gegenwart sehr gut unter der Tarnung einer Vergangenheit, die es in dieser Form nie gegeben hat, kritisch beleuchten kann, führt Baxter in "Das Jubilee-Komplott" vor. Vordergründig dreht sich der Plot um ein Wettrennen auf der Mega-Brücke, die das viktorianische England mit dem Kontinent verbindet. Doch erlangen wir Einblicke in ein Großbritannien, das rückständig geblieben ist, weil sich seine Eliten einst ausgeschnapst haben, lieber den Individualverkehr statt das Eisenbahnnetz zu fördern. Die überaus aktuelle Aussage dahinter: Technologischer Fortschritt wird nur dann zu gesellschaftlichem, wenn er allen zugute kommt. "Das Darwin-Anathema" rundet den kleinen gesellschaftspolitischen Schwerpunkt ab. Hier hat die katholische Kirche die Aufklärung im Keim erstickt und veranstaltet im Jahr 2009 einen Schauprozess gegen den längst verstorbenen Charles Darwin. (Bemerkung am Rande: Baxter baut in seine Erzählungen gerne "Lieblingsstaaten" ein, die als Inseln der Vernunft fungieren. In diesem Fall übernimmt Australien die Rolle.)

Zeitreisende Ratten und ein mathematisches Universum

Was den Themenblöcken "Andere Gegenwarten" oder "Andere Zukünfte" zugeteilt wurde, ließe sich im Prinzip beliebig gegeneinander tauschen, beides ist Science Fiction pur. Besonders gelungen ist hier "Die Venus-Invasion", das mit seinen moralischen, philosophischen und religiösen Aspekten an Carl Sagans "Contact" erinnert. Und erstaunlicherweise auch ähnlich optimistisch gehalten ist, obwohl die Menschheit darin die größtmögliche Demütigung erlebt: Alle überlegen krampfhaft, wie sie sich verhalten sollen, als technologisch überlegene Aliens im Sonnensystem eintreffen – doch die rauschen an der Erde einfach vorbei und führen Krieg mit den Wesen auf der Venus.

Die schrägste Prämisse von allen Geschichten dürfte "Die Pevatron-Ratten" haben. Durch ein Teilchenbeschleunigerexperiment werden Rattenbabys mit der Fähigkeit zum Zeitreisen geboren. Die können sich nun in die Vergangenheit ausbreiten und werden damit zur ultimativen Plage. Und sogar noch abgehobener ist "Artefakte", dessen Protagonisten sich in drei verschiedenen Universen Gedanken um die Vergänglichkeit machen. Einer ist ein schottischer Mathematiker, der zweite eine Gaia-artige planetare Intelligenz und der dritte ein Wesen aus einem vollkommen exotischen Universum, das einem mathematischen Gitter ähnelt. Baxter hat ja sein ganzes schriftstellerisches Schaffen hindurch stets die These vertreten, dass das Leben ein Prinzip ist, das sich völlig unabhängig von den Rahmenbedingungen immer und überall entwickelt. Hier ersinnt er die definitiv größte Variante ever (und selbst dieses nicht mehr überbietbare Lebewesen ist auf der Sinnsuche).

Wer erinnert sich noch an "Proxima"?

Dass der Band just mit dem am wenigsten interessanten Themenblock ("Proxima – Ultima") beginnt, liegt schlicht daran, dass die "Proxima"-Duologie gerade aktuell war, als "Obelisk" im Original erschien. Damals war es also eine verkaufsfördernde Strategie – heute ist sie vielleicht sogar kontraproduktiv. Zwei der vier Geschichten daraus kann man eigentlich gleich ganz überspringen: das fragmentarisch wirkende "Flucht aus Eden" sowie "Auf der Chryse-Ebene", ein eher belangloses kleines Abenteuer von jugendlichen Extremsportlern auf dem Mars.

Substanzieller ist da schon "Reise nach Amasien", eine originelle Paraphrase auf Jules Vernes "Reise zum Mittelpunkt der Erde". Anstatt durch geologische Schichten graben sich die digital rekonstruierten Protagonisten hier durch Daten-Schichten und steigen zum Kern der Künstlichen Intelligenz Erdschein (bekannt aus "Proxima") hinab. Und die Titelgeschichte des Bands, "Obelisk", kehrt noch einmal die gesellschaftspolitische Seite heraus. Hier wird der Leiter der chinesischen Mondkolonie von einem "Helden" (in der "Proxima"-Duologie die Bezeichnung für Menschen mit übertriebener Fortschrittsgläubigkeit) zum Bau eines kilometerhohen Turms überredet. Es ist ein megalomanisches Projekt, bei dem die Menschlichkeit auf der Strecke bleibt.

Am Ende zählen die Menschen

Und apropos Menschlichkeit: Die gilt ja gemeinhin nicht als Baxters Stärke – was hauptsächlich daran liegt, dass seine Protagonisten stets mit so gewaltigen Phänomenen konfrontiert werden, dass sie die Menschen zwangsläufig auf die Größe von Ameisen (oder Quarks ...) reduzieren. Dennoch schafft er es immer wieder, Figuren zu erschaffen, an die wir unser Herz hängen. Wie etwa den kleinen Matt aus "Vabanque", der eines Tages in einer Welt ohne Menschen aufwacht. Nur sein Hund und seltsamerweise auch der Nachbar hinter dem Zaun sind noch da. Wir rätseln, was da passiert sein mag – und zittern mit Matt, der vor der Offenbarung einer erschütternden Wahrheit steht. Ebenso fühlen wir mit dem ungleichen Brüderpaar in der wunderbaren Geschichte "Turings Äpfel", in der ein Alien-Signal auf der Erde eintrifft. Obwohl – oder auch weil – es darin um nichts weniger als das Schicksal des Universums geht, steht am Ende die Besinnung darauf, was ein erfülltes Leben wirklich ausmacht.

Und wenn schon der Anfang des Storybands mit dem "Proxima"-Block verunglückt wirkt, so ist doch der Schlusspunkt perfekt gesetzt. Da steht nämlich mit "StarCall" die Geschichte, die mir am besten gefallen hat: Der junge Paul hat zum Geburtstag einen Account geschenkt bekommen, mit dem er einmal alle zehn Jahre Kontakt zur Künstlichen Intelligenz Sannah aufnehmen kann, die auf eine Expedition nach Alpha Centauri geschickt wurde. Daraus wird ein "Dialog", der sich über ein ganzes Menschenleben erstreckt und nicht nur Pauls persönliche Entwicklung beschreibt, sondern auch eine wachsende Kluft: Während sich auf der Erde die Verhältnisse zunehmend verschlechtern, versprüht Sannah weiterhin ungebremst den naiven Optimismus, den man ihr einst einprogrammiert hat. Berührend – und ein wunderbarer Abschluss.