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Platz nehmen, bitte: Individualisierte Therapien und Online-Coaches können psychische Krankheiten effektiver lindern als herkömmliche Modelle – wenn sie auf die jeweilige Person abgestimmt sind.
Foto: Picturedesk/Westend61/Christine Müller

Die Erfolgschancen einer medizinischen Behandlung steigen, je besser sie auf die individuellen Charakteristika eines Patienten abgestimmt ist. Das sagt nicht nur der Hausverstand, sondern ist durch zahlreiche Studien zur Personalisierung unterschiedlichster medizinischer Bereiche auch wissenschaftlich untermauert. Wie aber sieht es mit der "Präzisionsmedizin" in der Psychotherapie aus? "Es gibt zwar immer mehr neue Verfahren und Leitlinien, doch noch kaum wissenschaftliche Untersuchungen dazu", kritisiert Thomas Probst, Professor für Psychotherapiewissenschaften am Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit an der Donau-Universität Krems.

Grobes Raster

In den Anfängen der Psychotherapieforschung sei es vor allem um die Frage gegangen, ob Psychotherapie überhaupt wirkt. Danach wollte man herausfinden, welche Psychotherapie am effektivsten ist. "In der historisch gesehen dritten Phase der Psychotherapieforschung hat man sich dann auf die internationalen Klassifikationssysteme psychischer Störungen und auf die Frage konzentriert, welche Psychotherapie bei einer bestimmten psychischen Störung wirkt", sagt Probst. Diese Erkenntnisse liefern den Praktikern aber nur ein grobes Raster, das individuelle Patientenmerkmale kaum berücksichtigt.

Die Psychotherapieforschung bewegt sich also erstaunlich langsam in Richtung Individualisierung. Empfehlungen und Erfolgsquoten gelten für den durchschnittlichen Patienten. Warum ist das so? "Obwohl psychische Störungen in den letzten Jahren zunehmen, wird Forschung im Bereich der Psychotherapie in Europa kaum gefördert", berichtet Thomas Probst. "Aber um zu wissen, welche Therapie bei welcher Kombination aus psychischen Störungen und Persönlichkeitsmerkmalen am besten wirkt, braucht man entsprechende Finanzierungen für qualitativ hochwertige Studien." Im Gegensatz dazu sei die Personalisierung in der Psychopharmakaforschung aufgrund besserer Förderungen schon deutlich weiter fortgeschritten.

Chronische Depression

Um auch für die Psychotherapie individualisierte Therapieempfehlungen geben zu können, hat Probst gemeinsam mit Kollegen unter anderem Behandlungsmöglichkeiten bei Depression unter die Lupe genommen. "Wir haben an rund 90 Probanden untersucht, welche von drei Behandlungsarten am besten für Patienten mit chronischer Depression und dem individuellen Patientenmerkmal 'frühkindliche Traumatisierung' wirkt."

Verglichen wurden die Routineversorgung, Routineversorgung in Kombination mit der "achtsamkeitsbasierten kognitiven Therapie (MBCT)", die Stressreduktion und Verhaltenstherapie kombiniert, sowie Routineversorgung in Verbindung mit dem "kognitiv-verhaltenstherapeutisch-analytischen Psychotherapie-System (CBASP)", das verhaltenstherapeutische und interpersonelle Ansätze einsetzt. Die Ergebnisse zeigten, dass mit CBASP depressive Symptome stärker reduziert werden können als mit der Routinebehandlung allein. Dieser Effekt wurde umso deutlicher sichtbar, je massiver die frühkindliche Traumatisierung der Patienten war.

Kombinierte Angebote

In einer anderen Studie haben die Wissenschafter die Wirkung der "psychodynamisch-interpersonellen Psychotherapie" im Vergleich mit einer bloßen Aufklärung über die Erkrankung bei Personen mit körperlichen Beschwerden ohne organische Ursachen untersucht. Dabei wurde auch das individuelle Patientenmerkmal der Alexithymie berücksichtigt, also die Unfähigkeit, eigene Gefühle adäquat wahrzunehmen und sie in Worten zu beschreiben.

Das Ergebnis hat die Forscher überrascht: Bezog man alle Patienten ein, brachte die psychodynamisch-interpersonelle Therapie nicht mehr Verbesserungen als die bloße Wissensvermittlung. Wurden jedoch nur die Probanden mit erhöhter Alexithymie untersucht, verbesserte diese Therapieform die psychische Lebensqualität der Betroffenen deutlich stärker als die psychotherapeutische Aufklärung. Es zeigte sich also einmal mehr, dass eine personalisierte Anwendung von Psychotherapie vielen Menschen Hilfe bringen könnte, die jetzt noch durch die allzu groben Behandlungsraster rutschen.

Psychologische Flexibilität

Bemerkenswerte Erkenntnisse brachte auch eine erst kürzlich durchgeführte Untersuchung bei Menschen mit chronischen Schmerzen. Ein Teil von ihnen erhielt eine internetbasierte Psychotherapie auf Basis der relativ neuen "Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT)", bei der verhaltenstherapeutische Techniken mit achtsamkeits- und akzeptanzbasierten Strategien kombiniert werden. Die Kontrollgruppe hatte keinen Zugriff auf diese E-Therapie. Ergebnis der Studie: Die Online-Therapie ist nur dann besser als gar keine Behandlung, wenn sie von einem E-Coach angeleitet wird. Brachte man jedoch das individuelle Patientenmerkmal der psychologischen Flexibilität ins Spiel, bekam man andere Ergebnisse. Sie zeigten, dass sowohl die begleitete als auch die unbegleitete E-Therapie nur bei Personen mit höherer psychologischer Flexibilität wirkt.

Diese ersten Untersuchungen machen deutlich, dass noch sehr viel Forschung nötig ist, um auch nur in die Nähe einer wissenschaftlich begründeten personalisierten psychotherapeutischen Behandlung zu kommen. Allein angesichts der enormen und immer weiter steigenden volkswirtschaftlichen Kosten, die einer Gesellschaft durch psychische Erkrankungen entstehen, ist eine intensivere Beschäftigung mit diesem Forschungsfeld zweifellos ein Gebot der Vernunft. (Doris Griesser, 14.7.2019)