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Produkte der Schuhmarke Ugg (rechts) sind populär – eine 22-Jährige nutze das Interesse als Köder für einen Internetbetrug.

Foto: Getty Images

Wien – In den Vereinigten Staaten von Amerika gibt es in manchen Bundesstaaten das nach einer Baseball-Regel benannte "three-strikes law". Wird man zum dritten Mal für ein Verbrechen verurteilt, erhält man automatisch eine lebenslange Haftstrafe. Bei Jaqueline N. geht es vor Richter Stefan Renner nur um ein Vergehen – aber ihre Geschichte zeigt die Problematik pauschaler Law-and-Order-Gesetze und wie wichtig es ist, den Einzelfall in Augenschein zu nehmen.

Geht man nach der von Staatsanwältin Irene Jelinek vorgetragenen Anklageschrift, ist die Sache klar: Zum dritten Mal innerhalb von drei Jahren ist die 22-Jährige vor Gericht, da sie auf Internetannoncen für Dinge Geld kassiert hat, die sie gar nicht besaß. Mit 20 bot sie noch teure Mobiltelefone an und wurde dafür im Juni 2016 zu fünf Monaten bedingt verurteilt. Gelernt hatte sie daraus offensichtlich nichts: Zehn Monate später bekam sie bereits ein Jahr, vier Monate unbedingt.

Strafaufschub wegen Schwangerschaft

Die die junge Erwachsene aber nicht antreten musste: Sie wurde schwanger und erhielt einen Strafaufschub bis Anfang 2019. Der Richter erlebt bei der Überprüfung von N.s Generalien dann eine Überraschung: "Hier steht, Sie haben kein Kind? Sie hatten deswegen doch Strafaufschub?", ist Renner verwundert. "Er ist zwei Wochen nach der Geburt verstorben", antwortet die Angeklagte leise. "Mein Beileid", reagiert der Richter, ehe er fortfährt.

Wie sich zeigt, hätte das Leben N.s auch ganz anders verlaufen können. Nach der Unterstufe in der Mittelschule absolvierte sie erfolgreich eine Lehre und fand eine Stelle in einer renommierten Institution. Dann kamen, wie es Verteidiger Wolfgang Moser formuliert, "drei sehr blöde Jahre". Die falschen Freunde beziehungsweise ein falscher Freund: der Vater des Kindes, der sie zu den ursprünglichen Betrügereien angestiftet haben soll.

Im Jänner 2018 kam N. mit ihrem Baby aus dem Krankenhaus, eine Woche später war der Säugling an einer im Spital zugezogenen Infektionserkrankung gestorben. Wenige Wochen darauf starb auch der Vater der Angeklagten. "Ich habe mir für das Begräbnis und den Grabstein meines Kindes Geld bei den falschen Personen ausgeborgt und auch beim Begräbnis meines Vaters mitgezahlt", erzählt die junge Frau nun schluchzend.

20-Stunden-Job für 670 Euro netto

Trotz Bewährungshilfe dürfte N. überfordert gewesen sein. Sie hoffte, mit einem Job die Schulden bei ihren früheren Opfern und ihren "Begräbnisgläubigern" begleichen zu können, und begann im Juli als Teilzeitverkäuferin für 670 Euro netto zu arbeiten. Das Geld reichte hinten und vorne nicht. Die Folge: Ab November inserierte sie wieder und bot Schuhe der Marke Ugg um Preise zwischen 50 und 90 Euro an.

"Die entscheidende Frage ist: warum?", will Renner von ihr wissen. "Ich habe mir nicht anders zu helfen gewusst. Das ist keine Entschuldigung, ich schäme mich auch dafür", sagt die Angeklagte. Aber: "Ich wollte keine Probleme und keinen Ärger", spielt sie auf die Menschen an, die ihr im Februar 2018 Geld vorgeschossen hatten. "Aber vor Gericht zu müssen und verurteilt zu werden ist doch der größte Ärger!", ist der Richter überzeugt. "Ich weiß es nicht, warum ich es wieder gemacht habe", weicht N. aus.

Besonders hohe kriminelle Intelligenz kann man der Wienerin nicht unterstellen: Sie verwendete für die Kleinanzeigen zwar teilweise falsche Namen, gab aber stets ihre richtige Kontonummer an. 60 Menschen fielen beim dritten Mal auf sie herein, der Schaden ist mit 3.400 Euro überschaubar. Einen Teil des Geldes hatte sie bereits zurückgezahlt, bevor im Jänner die Polizei auftauchte, der sie dann freiwillig ihre Kontoauszüge übergab.

Seit 31. Mai in Strafhaft

Lukrativ war die Angelegenheit nicht: Sie schätzt, dass das Begräbnis ihres Kindes und die Beteiligung an der Bestattung des Vaters sie 3.200 Euro gekostet haben. "Dennoch verstehe ich es nicht ganz. Es gibt viele bessere Möglichkeiten, als ...", beginnt der Richter nochmals. "Ich weiß", unterbricht ihn resigniert die Angeklagte, die weiß, dass ihr viele Monate unbedingter Haft bevorstehen – die vier Monate der aufgeschobenen Gefängnisstrafe verbüßt sie seit 31. Mai. Von dem Geld, das sie dort verdient, werde sie die jüngsten Opfer entschädigen, verspricht sie.

Und danach? "Danach möchte ich mein Leben in den Griff bekommen und nicht mehr kriminell werden", hofft sie auf die Möglichkeit, nach der Entlassung einen regulären Job zu bekommen. Im schlimmsten Fall droht ihr nun der Widerruf von 13 Monaten offener Vorstrafen, dazu können bis zu 36 Monate wegen der nun angeklagten Delikte kommen.

Renner entscheidet sich für 14 Monate unbedingt, von den Vorstrafen wird keine widerrufen. "Ich glaube Ihnen die schwierige Situation, die ich aber nur zum Teil nachvollziehen kann", begründet der Richter seine Entscheidung. "Schulden haben viele Menschen, aber weder Ihrem Vater noch Ihrem Kind ist damit geholfen, wenn Sie Unschuldige betrügen und jetzt ins Gefängnis müssen."

Richter entscheidet sich "für absolutes Minimum"

Trotzdem sieht er Hoffnung, vor allem wenn N. die Vergangenheit hinter sich lässt. "Sie haben sich an jedem Punkt für das Falsche entschieden", mahnt er und versichert der Angeklagten, dass "14 Monate das absolute Minimum sind". Sollte sie tatsächlich die Opfer entschädigen, könnte es durchaus die Chance auf nachträgliche Strafmilderung und Fußfessel bei neuem Job geben, macht der Richter der jungen Frau noch Mut, ehe sie und die Staatsanwältin das Urteil annehmen. (Michael Möseneder, 9.7.2019)