Fotos: Luzifer Verlag

Whatever happened to Steampunk? Aus den Programmen der großen deutschsprachigen Phantastikverlage ist er weitgehend verschwunden, ebenso wie die andere bedeutende Modewelle der 2000er Jahre, Zombies. Also führen wir jetzt einen Rücksturz ins erste Jahrzehnt der Rundschau durch, als beide Genres noch in Blüte standen. Damals waren hier zwei Bücher von Al Ewing vertreten, die zum Shared Universe von "Pax Britannia" gehörten. Dieses bestand von 2007 bis 2013 und wurde vor allem von seinem ursprünglichen Schöpfer Jonathan Green mit Romanmaterial befeuert. Der Luzifer-Verlag hatte diese beiden Titel hier vor ein paar Jahren schon einmal übersetzt und bringt sie nun noch einmal überarbeitet heraus. Ergeben wir uns also der Nostalgie.

Das Fast-alles-ist-möglich-Worldbuilding von "Pax Britannia" kann man nicht besser zusammenfassen, als es Green in der Einleitung seines Romans selbst getan hat. Ich zitiere also: Königin Victoria ist kurz davor, ihr 160. Jubiläum zu zelebrieren, da sie mittels hochentwickelter Dampftechnologie am Leben erhalten wird. London hat eine wunderliche Ausweitung des Stadtrandes zu verzeichnen, wo Luftschiffe den Himmel durchstreifen, Roboter-Bobbys das Gesetz vertreten und Dinosaurier im Zoo bewundert werden können. Willkommen in Magna Britannia, der dampfbetriebenen Welt voller wunderlicher Kreationen und dubioser Bösewichte.

Überlebensgroß

Hauptfigur von Greens Romanen ist eine Mischung aus James Bond, Sherlock Holmes und Doc Savage mit Namen Ulysses Lucian Quicksilver: Abenteurer, Dandy, Kämpfer und Frauenheld – einer, der sich sicher bestens mit Richard Francis Burton aus Philip José Farmers "Flusswelt"-Romanen verstanden hätte. Und man kann dem Autor auch nicht vorwerfen, dass er mit seinem Über-Mann unbewusst althergebrachte Klischees transportieren würde: Green wollte einen überlebensgroßen Helden alter Schule schaffen und gibt auch unverblümt zu, dass er sich gerne selbst in Quicksilvers Rolle wiedererkennen würde.

Kleine Brechungen machen die archaische Figur auch für heutige Geschmäcker verdaulich. Zum einen sind Greens Romane eine Hommage an die Pulps des frühen 20. Jahrhunderts und als solche mit Ironie zu lesen. Zum anderen steht Quicksilver in einer durchaus interessanten kognitiven Dissonanz. Er lässt sich immer wieder von der britischen Krone als Agent anheuern – dient damit aber einem sklerotisch gewordenen Imperium, in dem die soziale Ungerechtigkeit atemberaubende Ausmaße angenommen hat. Quicksilver ist sich des Elends auch bewusst, ebenso wie der Frauenfeindlichkeit, die Magna Britannia selbst kurz vor der Jahrtausendwende noch prägt. Aber tut er etwas dagegen?

Quicksilver zur Seite steht sein treuer Butler Nimrod, der durchaus auch mit in den Kampf zieht, dabei aber stets so stoische Miene bewahrt wie Lurch aus der "Addams Family". Unter seinen Gegenspielern ist zunächst Quicksilvers alte Nemesis Jago Kane ("Aufwiegler, Revolutionär und Terrorist") zu nennen – ein Antagonist von der eher simplen Sorte, deren tückische Pläne stets im letzten Moment vereitelt werden und dem Bösewicht dann das berühmte "Curses, foiled again!" entlocken. Weniger leicht einzuschätzen ist der konservative Politiker Uriah Wormwood, der sich über Anti-Terror-Gesetze zum neuen Premier aufschwingt. Was Quicksilver vor die Frage stellt, ob sein oberster Dienstherr womöglich auf der Seite des Bösen steht.

Da passiert allerhand

In "Welt aus den Fugen" nimmt Quicksilver die Ermittlungen auf, nachdem im Londoner Natural History Museum eingebrochen und eine Differenzmaschine geraubt wurde. Dabei wurde ein Nachtwächter getötet – und zwar, wie wir zu Beginn lesen, von einem Affenmenschen. Damit ist auch schon das Thema Evolution etabliert, das sich fortsetzen wird, wenn die revolutionäre Gruppierung Darwinian Dawn mit dem Schlachtruf "Wir sind die Evolution!" auf den Plan tritt und das Ende des britischen Empire fordert, das wie ein Vampir am Planeten saugt. Höchst berechtigt eigentlich, möchte man sagen – nur die Wahl der Mittel ist den Revolutionären gelinde gesagt missglückt.

Im unmittelbar daran anschließenden "Gefahr in der Tiefe" tauchen wir dann ab und gehen mit Quicksilver auf große Fahrt, "20.000 Meilen unter dem Meer" gewissermaßen. Wenn das tauchende Kreuzfahrtschiff "Neptune" nach einem Anschlag auf den Meeresboden sinkt, gleicht das Szenario einer Mischung aus Jules Vernes U-Boot-Klassiker und Paul Gallicos "Der Untergang der Poseidon" (bekannt geworden durch die Verfilmung als Katastrophenschinken). Und natürlich wird auch ein riesiges Monster seinen Auftritt haben.

Zur Sprache

Jonathan Green will nur eines: Unterhalten – und dank Ideenreichtum und Tempo gelingt ihm das auch. Teilweise sogar – auch wenn Green kein Gott der Literatur ist – mit sprachlichem Witz. Da sprengen etwa in einem Kapitel Terroristen die Viadukte der Londoner Stadtbahn, woraufhin Züge voller schreiender Menschen auf den Zoo herabstürzen, Feuersbrünste auslösen und die Gehege der aus der "Vergessenen Welt" importierten Dinosaurier aufbrechen. Es ist ein weder Frauen noch Kinder verschonendes Inferno, das eine der Hauptfiguren mit dem Understatement des Jahres kommentiert: "Da sind wir wohl in eine kleine Schwierigkeit geraten."

Sogar in der deutschen Fassung können wir wiedererkennen, wie Green die Hymne "Rule Britannia" oder Henry Morton Stanleys legendären Ausspruch "Dr. Livingstone, I presume?" paraphrasiert und Sherlock Holmes' Formulierung vom "Spiel" übernimmt. Anderes ist schon geschickter getarnt – mitunter wurden bei der Übersetzung unglückliche Entscheidungen getroffen, wenn es darum ging, welches deutsche Wort die geeignetste Alternative sein könnte. Meistens kann man sich dann aber eh vorstellen, welchen Begriff Green im Original verwendet haben mag ... außer in rätselhaften Extremfällen wie diesem: In seinem Tweed Jackett, der senffarbenen Weste und den Jagdhosen sah er exakt wie ein englischer Landadeliger aus, der gerade eine nachmittägliche Quengelei genoss.

Üppig ist das Angebot auf Deutsch allerdings ohnehin nicht: Außer diesen beiden zum zweiten Mal veröffentlichten Romanen gibt es nur noch die Kurzgeschichte "Vanishing Point – Fluchtpunkt", die als kostenfreies E-Book erhältlich ist. Wer hierin das richtige Material für sommerliche Erfrischung gefunden hat, muss den Rest also im Englischen sch(l)ürfen.