Viele der neu zugelassenen Medikamente bieten keine Vorteile gegenüber Standardarzneimitteln, hat eine Analyse des IQWiG ergeben.

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Wird ein neues Medikament zugelassen, gehen Ärzte und Patienten davon aus, dass das Wirkprofil besser ist als bei vergleichbaren, bereits zugelassenen Arzneimitteln. Im Idealfall handelt es sich um eine echte Innovation. Das entspricht jedoch nicht zwingend der pharmakologischen Wirklichkeit. Dass es den Patienten gesundheitliche Vorteile bringt, massenhaft neue Arzneimittel schnellstmöglich auf den Markt zu bringen, wird nun von Experten infrage gestellt.

Das unabhängige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) untersuchte den potenziellen Nutzen und Schaden von medizinischen Interventionen für Patientinnen und Patienten. Unter der Leitung von Beate Wieseler wurden in Deutschland frisch zugelassene Medikamente auf ihren tatsächlichen Zusatznutzen geprüft.

Kaum Benefits

Zwischen 2011 und 2017 bewerteten die Wissenschafter 216 verschiedene Arzneimittel, die in Deutschland neu zugelassen worden waren. Fast alle dieser Medikamente wurden durch die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) auch für den europaweiten Markt freigegeben.

Nur etwa 25 Prozent der neuen Medikamente hatten laut den Experten einen wirklichen Zusatznutzen im Vergleich zu Standardmedikamenten, die bereits seit längerem in Verwendung waren. Bei 16 Prozent der analysierten Arzneimittel war nur ein minimaler Benefit nachweisbar. Für die restlichen 58 Prozent, das entspricht 125 Arzneimitteln, konnte gar keine zusätzliche Wirkung nachgewiesen werden.

Kritik an Behörden

Speziell in den Gruppen der Psychopharmaka und der Diabetesmedikation bezeichnen die Experten die Lage als schockierend. Im ersteren Fall wiesen nur sechs, im zweiten 17 Prozent der überprüften Arzneimittel einen überzeugenden Benefit auf.

Obwohl die Autoren anmerken, dass es wichtig sei, den Patienten neue Medikamente schnell zur Verfügung zu stellen, kritisieren sie die unzureichenden Überprüfungsverfahren der zuständigen Behörden.

Bei einer älteren Evaluation konnte etwa gezeigt werden, dass bei den meisten Krebsmedikamenten, die zwischen 2009 und 2013 von der EMA zugelassen wurden, kein klinisch relevanter Zusatznutzen für den Patienten festgestellt werden konnte. Zusätzlich bemängeln die Experten, dass nach der Zulassung oftmals keine weiterführenden Studien angelegt werden, um die Wirkung der Stoffe zu überprüfen.

Informationslücken schließen

Patienten, Ärzte und Apotheker verdienen ausreichende und vollständige Informationen über den Nutzen neuer Medizinprodukte. Durch die derzeitigen Informationslücken sei das aber kaum möglich. "Die Konsequenz ist, dass die Fähigkeit der Patienten, informierte Behandlungsentscheidungen nach ihren Präferenzen zu treffen, eingeschränkt wird. Jedes Gesundheitssystem, das sich selbst als 'patientenorientiert' beschreibt, kommt seinen ethischen Verpflichtungen somit nicht nach", kritisieren die Autoren.

Strengere Regulierung

Die Experten verlangen striktere Regulierungen und die verpflichtende Vorlage von robuster Evidenz aus aussagekräftigen Studien, um die Effizienz und Sicherheit neuer Arzneimittel zu gewährleisten.

Zudem rufen sie Entscheidungsträger im Gesundheitssystem dazu auf, diejenigen Medikamente einzufordern und erforschen zu lassen, die gerade gebraucht werden, und sich diese Entscheidung nicht von Pharmafirmen abnehmen zu lassen. Nicht die Interessen der Konzerne, sondern die Bedürfnisse der Patienten sollten im Mittelpunkt stehen, schlussfolgern die Autoren.

Nichts Neues

Einige Wissenschafter üben jedoch Kritik an den Forderungen der Experten. "Neu ist an dem Artikel nur die Kompilation von Ansätzen, die im Zweifel noch mehr dazu beitragen, Arzneimittelinnovationen zu behindern, und damit den Patientinnen und Patienten einen Verlust an Lebensjahren verschaffen", sagt etwa Ulrich Gassner, Kodirektor des Instituts für Bio-, Medizin- und Gesundheitsrecht an der Universität Augsburg.

"Grundsätzlich kann man sich darüber streiten, ob das Ergebnis der Analyse denn so schlecht ist. Es kann nicht erwartet werden, dass alle neuen Medikamente einen Zusatznutzen attestiert bekommen. Es geht dabei immer noch um Forschung und Entwicklung, und da kann nicht alles gelingen", fügt Dawid Pieper, Leiter der Abteilung Evidenzbasierte Versorgungsforschung an der Universität Witten-Herdecke, hinzu. (red, 16.7.2019)