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Ein kleines Stück außerhalb von Augsburg wird hinter einem Sicherheitszaun die Zukunft entwickelt. Denn dort befindet sich im Roman "Die Siedlung" das Vorzeigeprojekt Himmelhof, eine Brutstätte neuer Ideen und Technologien. Der deutsche Krimi-Autor Su Turhan, bekannt unter anderem durch seine "Kommissar Pascha"-Romane, streckt damit erstmals einen vorsichtigen Zeh in die Phantastik. Wenn er ihn zurückzieht, wird daran aber natürlich wieder einmal Blut kleben.

Im Netz

An die 1.000 Menschen leben in der voll klimaneutralen Ansammlung von Smart-Homes des Himmelhofs, der nach dem Willen seines Gründers Adam Heise eine Symbiose von Mensch und Maschine sein soll. "Sie werden sich wundern, wie alles mit allem vernetzt ist." Das gilt auch für die menschlichen Bewohner, die via Armband oder implantierten Chip laufend ihre biometrischen Daten ins Netz einspeisen, in dessen Zentrum die Künstliche Intelligenz Amma an der optimalen Funktionalität von allem und allen feilt. Und wer hier eines Tages wieder auszieht, wird dies in optimiertem Zustand tun: Der Lehrplan in der lokalen Schule ist anspruchsvoll, Elite-Unis warten schon auf die Absolventen des Himmelhofs.

Kleiner filmischer Einschlag: Bei der Vorstellung des Himmelhofs lesen wir von einem hölzernen Tor, in das Adern-ähnliche Bahnen eingelassen sind, durch die eine rote Flüssigkeit strömt. Es soll eigentlich den Netzwerk-Charakter der Siedlung illustrieren – man braucht aber nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, dass dieses blutige Herz nur allzu leicht noch ganz anderen Symbolcharakter erhalten kann. (Ein weiteres bedeutungsschwangeres Bild – nämlich dass der Himmelhof über alten Tunnels aus der NS-Zeit errichtet wurde – hat die Subtilität eines Holzhammers, weist aber ebenfalls auf bevorstehende Ereignisse grausiger Natur hin.)

Hier wird keine Zeit verschwendet

Der klassische Aufbau sähe wohl so aus, dass wir erst mal angemessen staunend mit der Hauptfigur im Techno-Idyll einziehen, um dann langsam Verdacht zu schöpfen, dass hier etwas nicht stimmt. Für eine solche Verzögerungstaktik nimmt sich Turhan allerdings keine Zeit. Er lässt den Roman mit einer Geiselnahme beginnen, die mit zwei Toten und einer ominösen Andeutung endet.

Generell ist das Tempo in "Die Siedlung" rasant gehalten. Querlesen verbietet sich hier, sonst hat man hastdunichtgesehen schon eine entscheidende Stelle übersprungen – etwa wenn auf eine der Nebenfiguren ein ebenso origineller wie grausiger Anschlag verübt wird. Und damit ist nicht die Sache mit dem Müllzerkleinerer gemeint, die kommt erst später ...

Hauptfigur Helen Jagdt ist auch keine unbedarfte Neubewohnerin des Himmelhofs, sie kommt in geheimem Auftrag. Zusammen mit ihrem Vorgesetzten gibt sie ein harmloses Pärchen auf Besuch – in Wahrheit wurden die beiden aber von den Geldgebern Heises eingeschleust, um im Himmelhof nach dem Rechten zu sehen. Verständlich, dass Investoren nervös werden, wenn sich die Todesfälle häufen.

Spannend gemacht

Das Grundszenario von "Die Siedlung" hat Vorbilder sowohl in der Kriminalliteratur als auch in der Science Fiction. Was die SF betrifft, kommen einem Klassiker wie J. G. Ballards "Super-Cannes" oder Ira Levins "Die Frauen von Stepford" in den Sinn, aber auch neuere Werke wie Margaret Atwoods "The Heart Goes Last" oder Christopher Fowlers "The Sand Men". Unterschiede gibt es in der Schwerpunktsetzung: Alle diese Werke sehen eine unmenschliche Gesellschaft als Täter – respektive in Ballards Fall das (Un-)Wesen des Menschen an sich, das solche Gesellschaften überhaupt erst hervorbringt. Auch Turhans Roman hat zwar gesamtgesellschaftliche Aspekte, tendenziell geht er aber krimitypisch stärker in Richtung individuelle Schuld.

Womit wir es letztlich mit einem klassischen Whodunnit zu tun haben: Wer ist für die Bluttaten im Himmelhof verantwortlich? Ist es Gründer Adam Heise, ein ebenso visionäres wie manipulatives Mastermind à la Julian Orley in Frank Schätzings "Limit" oder Einar Geirsson in Chuck Wendigs "Invasive"? Immerhin hat Heise keinerlei Hemmungen, die umfassenden Überwachungsmöglichkeiten seines Systems für persönliche Zwecke auszunutzen, zudem widerfahren jedem, der sein Missfallen erregt, im Handumdrehen unangenehme Dinge. Oder ist es Frieda Drechsler, die leitende Ärztin des Himmelhofs, der Menschenversuche nachgesagt werden? Oder – etwas sciencefictionesker gedacht – ist es am Ende gar die Künstliche Intelligenz des Himmelhofs selbst? Diese Frage hält den Roman bis zum Schluss spannend.