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Bleiben wird doch noch in Paris, hier war's grade so schön seltsam. Auch in der ausgezeichneten neuen Graphic Novel des Schweizers Philippe Chappuis alias Zep ist die Stadt an der Seine seltsamen Mutationen unterworfen worden: Da wuchern rätselhafte Stachelgebilde auf Denkmälern, die Luft hängt voller Überwachungsdrohnen, die mal nach Origami aussehen, mal, als wären sie aus Seife geschnitzt, und statt Hunden führt man Gürteltiere und Ameisenbären an der Leine. Garniert wird der exotische Mix mit einem guten Schuss "Star Trek"-Technologie, nämlich Nahrungsreplikatoren und vor allem Transporterkabinen, mit denen man sich um den Globus beamen lassen kann.

Von John Difool zu James Dean

Die fahrstuhlkabinengroßen Teleporter des Unternehmens Transcore sind es auch, denen Hauptfigur Tristan Keys' besonderer Argwohn gilt. In seinem Blog, den niemand liest, warnt er vor den Gefahren neuer Technologien. Fragt man seine Partnerin Chloé, die die Brötchen nach Hause bringt und sich in der globalisierten Wirtschaft offenbar gut zurechtgefunden hat, dann neigt Tristan schlicht zu Verschwörungstheorien.

Detail am Rande: Beim Lesen dachte ich mir noch, dass bei dem als 50er-Jahre-Rebell à la James Dean oder Marlon Brando gezeichneten Tristan die Optik nicht ganz zur Charakterisierung passt. Beim Blick in Zeps Zeichenwerkstatt im Anhang des Bands werden wir dann sehen, dass er in den ersten Entwürfen tatsächlich noch ganz anders aussah: unscheinbar wie John Difool – eigentlich für seine Rolle passender, aber nach Meinung des Autorenteams "ohne Charisma". Der Tristan des fertiggestellten Produkts ist also gewissermaßen seine eigene Hollywood-Version.

Zurück zur Handlung: Tristans Argwohn verdichtet sich, als er eines Tages eine vollkommen derangierte ältere Dame in der Metro sieht und ihr kurz darauf, als er wieder einmal einen neuen Gelegenheitsjob antritt, ein zweites Mal begegnet. Doch nun wirkt sie so distinguiert, wie es nur geht, und entpuppt sich als seine neue Chefin Madame Kruger. Beim dritten Wiedersehen findet er erneut ihre Clochard-Variante vor, und damit nicht genug: Vor den Augen des entsetzten Tristan wird sie auf der Straße von Uniformierten desintegriert. Weitere Seltsamkeiten werden folgen, und Tristan gerät in den Strudel eines Geheimnisses, das seine Befürchtungen noch übertrifft.

Die Optik

Zep kennt man vor allem als Schöpfer der Comics um "Titeuf", den knollennasigen Schulbuben mit der blonden Federlocke. Für seine zusammen mit Dominique Bertail ("Ghost Money", "Mondo Reverso") entworfene Graphic Novel "Paris 2119" setzt er hingegen ganz auf den Stil französischer SF-Comics aus den 70ern und 80ern – insbesondere Enki Bilal dürfte hier ein Vorbild gewesen sein. Die graublaue Düsternis weiter Teile von "Paris 2119" ist aber weder die simple Übernahme von Bewährtem noch Selbstzweck, sondern in der Handlung gut begründet: Da Tristan die moderne Technologie so weit wie möglich meidet, bewegt er sich zwangsläufig in den abgefuckten Randzonen der Gesellschaft und in der kaum noch genutzten Infrastruktur von gestern: Der Eurostar ... er verkehrt einmal pro Tag. Für Nostalgiker, für Leute ohne Papiere, für Junkies, für Sektenmitglieder, die Teleportation ablehnen. Für den Bodensatz.

Doch nicht alles ist trüb, denn "Paris 2119" lebt von Kontrasten. Das beginnt ganz grundlegend bei dem zwischen dem schwarzgekleideten Weißen Tristan und der weißgekleideten Schwarzen Chloé. Zufall ist diese Zusammenstellung keiner, wir werden das Muster immer wieder vorfinden: bei den stets in Paaren auftretenden geheimnisvollen Uniformierten ebenso wie bei diversen Nebenfiguren. Dazu kommt der Gegensatz zwischen den einigermaßen lieblich wirkenden Stadtteilen, die von einem Energieschirm geschützt werden, und den ungeschützten Teilen außerhalb, in denen Dauerregen niedergeht, der die vergiftete Atmosphäre sauberspülen soll. Draußen ist feindlich, wie uns die – logisch nicht erklärbaren bzw. erklärten – Stachelgebilde auf Gebäudefassaden und Denkmälern zeigen. Die Gegenüberstellung historischer Baukunst und abstrakter geometrischer Gebilde (seien es die Stacheln, seien es die putzigen Flugdrohnen) bildet den nächsten Kontrast.

Empfehlung!

Ich weiß nicht, wie es im Comic-Bereich aussieht, aber zumindest in der bildlosen Literatur gab es bereits genug Werke, die SF-Fans an den ungemütlichen Gedanken gewöhnt haben, dass Teleportation eigentlich nur auf eine Art funktionieren kann – und die ist definitiv nicht so ressourcensparend, wie es Transcore seinen Kunden weismachen will. Was Tristan erfährt, dürfte also die wenigsten wirklich überraschen. Aber das macht nichts, Tristans Weg zur Erkenntnis ist dennoch einer, auf dem man ihn gerne begleitet (und unterwegs allerhand zu bestaunen bekommt). Als besonderes Zuckerl ist noch zu werten, dass "Paris 2119" ziemlich genau den Stoff und damit die Länge einer Kurzgeschichte respektive eines Films hat und zu einem emotional befriedigenden runden Abschluss kommt. Eine Fortsetzung wäre möglich, ist aber nicht notwendig – endlich mal ein Comic-Band ohne Cliffhanger am Ende!