Das ist doch viel zu tief", sagt Umugani Chergesova am Beckenrand. "Da kann ich noch nicht hineingehen." Eine kleine Metalltafel verrät die Tiefe des Sportbeckens im Schwimmbereich des Freizeitzentrums am Stadtrand Wiens: 1,35 Meter steht darauf. Eigentlich kann Chergesova hier noch locker stehen. Trotzdem – ohne ihre Schwimmlehrerin will die 57-Jährige sich noch nicht ins Wasser wagen.

Umugani Chergesova lernt mit 57 Jahren erstmals schwimmen.
Foto: Regine Hendrich

Für Chergesova ist es der dritte Tag ihres Schwimmkurses bei der Schwimmschule Wien. Ihre 24-jährige Tochter habe ihr das Training zum Geburtstag geschenkt, erzählt die gebürtige Russin. "Sie hat gesagt: 'Mama, du bist noch jung, du kannst das noch lernen.'"

Warum sie sich zuvor nie ins tiefe Wasser gewagt hat? "Ich weiß es eigentlich nicht. Ich habe vier Brüder, alle können gut schwimmen. Sie sind wie Haie im Wasser." Es habe sich bei ihr einfach nie ergeben. Und das, obwohl sie im Nordkaukasus nur wenige Minuten vom Kaspischen Meer entfernt aufgewachsen ist, wie sie erzählt. Schwimmen zu lernen sei nicht ganz einfach. "Es ist eine schwierige Aufgabe. Ich habe eigentlich immer viel Wasser im Mund", sagt sie lachend.

Trainerin Nici Rychlewski zeigt den Anfängern die Bewegungen vor.
Foto: Regine Hendrich

Im Kinderbecken zeigt die zierliche Frau jedoch kaum Scheu vor dem Wasser. 1,10 Meter ist es tief, das Wasser reicht den zum Großteil weiblichen Teilnehmern etwa bis knapp über den Bauchnabel. "Es ist toll" , sagt Chergesova und schnallt sich die blaue Schwimmbrille um. Sichtlich begeistert watet sie durchs Wasser. Ein bisschen ist sie die Streberin unter den fünf Lernwilligen im Anfängerschwimmkurs für Erwachsene.

Sie stößt sich vom Beckenrand ab und gleitet wie ein Pfitschipfeil durchs Wasser – kein Problem. Den Kopf untertauchen und einige Blubberblasen durchs Ausatmen entstehen lassen – ein Leichtes. Chergesova kennt die Routine. Andere Teilnehmer sind bei der Umsetzung der kleinen Aufgaben, die ihnen Schwimmlehrerin Nici Rychlewski im Becken geduldig vormacht, weitaus angespannter.

Kopf unters Wasser und Blubberblasen machen. Eine der ersten Übungen, die im Schwimmkurs absolviert werden.
Foto: Regine Hendrich

Denn das Abtauchen ist oft schon eine große Herausforderung, wie Schwimmtrainer Leonard Höller von der Schwimmschule Wien erklärt. "Den Kopf ganz unter Wasser zu tauchen ist oft die erste Schwierigkeit." Auch bei den Schwimmanfängern zeigt sich das. Über dem Wasser ein- und unter Wasser auszuatmen funktioniert nicht bei allen. Einige verkutzen sich an dem Wasser, das sie gerade eingeatmet haben.

Unsichere Schwimmer

20 Prozent der österreichischen Bevölkerung ab 15 Jahren schätzen laut einer Studie des Kuratoriums für Verkehrssicherheit ihre Schwimmkenntnisse als sehr unsicher bis mittelmäßig ein. Ganze acht Prozent der über Fünfjährigen können in Österreich nicht schwimmen. Das sind fast 700.000 Personen. Bis zur Volljährigkeit lernen zwei Prozent noch schwimmen. Von den über 18-Jährigen bleiben sechs Prozent Nichtschwimmer.

Die Anstrengung steht den fünf Nichtschwimmern schon nach kurzer Zeit ins Gesicht geschrieben. Sie sind hochkonzentriert, während sie – den Oberkörper noch über Wasser – mit der Schwimmlehrerin Kraulbewegungen fürs Rückenschwimmen üben. Es wirkt anstrengend, alles richtig zu machen. Geplanscht wird hier nicht. Für viele ist es auch eine Herausforderung, sich rücklings in die Schwimmnudel fallen zu lassen und sich mit den Beinen strampelnd im Nass fortzubewegen.

"Schwimmen ist nicht schwimmen", antwortet Höller auf die Frage, wie lange es dauert, bis Erwachsene den Sport lernen. Zuerst gehe es darum, dass niemand untergeht. "Wie lange es dauert, bis man tatsächlich schwimmen kann, ist sehr individuell." Bei den erwachsenen Schwimmanfängern gehe es aber oft überhaupt erst darum, ihnen die Angst vor dem Wasser zu nehmen. Vor allem wenn diese aus einem Trauma resultiert.

Sicherheit geht vor

Im Kinderbecken kreuzen die Schwimmanfänger mit ihren grünen Schwimmnudeln in den Händen von Beckenrand zu Beckenrand. Die jüngste Teilnehmerin verzichtet bereits auf die Schaumstoffhilfe. "Das ist schon mein zweiter Kurs. Ich fahre heuer an den See und will besser sein", sagt die 18-Jährige. Über Wasser kann sie sich schon halten. Beim Wechsel ins Sportbecken lässt sie euphorisch wissen: "Ich liebe das Tiefe." Trotzdem bleibt sie – wie auch der Rest der Gruppe – immer in der Nähe einer Anhaltemöglichkeit. Sicher ist sicher.

Die fünf strampeln sich, die Schwimmhilfe fest im Griff, an die andere Seite des Beckens. Die Strecke, für die die Anfänger ein Zeiterl brauchen, absolviert ein junges Mädchen, deren Beine in einer Meerjungfrauenflosse verpackt sind, deutlich schneller.

Die kleine Meerjungfrau hat den Anfängern im Schwimmkurs einiges voraus. Und schneller ist sie auch.

Es ist Zeit zu springen. Die vorher noch so forsche junge Teilnehmerin hockerlt auf dem Ein-Meter-Stockerl, sie zögert. Zu hoch. Sie wagt den Sprung vorerst nur vom Beckenrand. Für sie ist die Stunde vorbei. Während sich die restlichen Teilnehmer langsam und bedacht auf den Turm wagen, macht es laut platsch neben ihnen. Wasser spritzt. Der einzige männliche Teilnehmer bereitet sich konzentriert auf den Absprung vor.

Der Sprung ins kalte Wasser kostet auch Umugani Chergesova etwas Überwindung.

Trainerin Rychlewski wartet im Wasser. "Keine Angst, ich bin hier", versichert sie. Nach einer kurzen Pause macht es wieder platsch. Es folgt ein leises Kichern. Chergesova zieht Augenbrauen und Schultern hoch. Sie lächelt: "Ich bin neidisch", sagt sie: "Schauen Sie sich die Kleine an." Platsch. Eine etwa Fünfjährige im rosa Badeanzug klettert daneben aufs Stockerl, das nur ein bisschen kleiner ist als sie selbst. Platsch. Im Akkord springt sie furchtlos ins Becken, taucht auf und klettert wieder auf den Turm. Chergesova tut es ihr gleich. Nur eben mit der Schwimmnudel unter den Armen.

"Kinder sind viel unbedarfter und hemmungsloser. Sie sind weniger verkrampft und machen sich nicht so viele Gedanken", sagt Höller. Im Durchschnitt lernen Kinder mit fünf Jahren schwimmen. Ab dann können sich 75 bis 80 Prozent von ihnen über Wasser halten, ohne dass sie untergehen, sowie vom Beckenrand oder aus einem Meter Höhe ins Wasser springen.

Vom Baden zum Schwimmen

"Es ist ein großer Unterschied zwischen Schwimmen und Baden", heißt es aus der Wiener Bildungsdirektion. Der Großteil der Kinder sei zwar mit Wasser vertraut, jedoch mit seichtem Wasser und oftmals in Erlebnisbädern. Zudem sei es auch eine Frage, welchen Stellenwert das Schwimmen in der Familie hat. Denn mit Kindern, die nicht schwimmen können, in ein Bad zu gehen, stellt immer eine Herausforderung dar.

"Schwimmen macht den allermeisten Kindern nicht nur Spaß, sondern ist auch aus gesundheitlichen Gründen und vor allem für die eigene Sicherheit enorm wichtig", sagt der zuständige Bildungsstadtrat Jürgen Czernohorszky (SPÖ). In Wien sind Schwimmkurse für Schüler der dritten Klasse Volksschule und Sonderschule verpflichtend. 17.261 Schüler haben im Schuljahr 2017/18 einen Schwimmkurs besucht.

"Die letzten Jahre zeigen, dass etwa die Hälfte der Schüler zu Beginn der Kurse schwimmen kann", heißt es aus der Bildungsdirektion Wien. Nach Abschluss des Kurses sind es etwa 75 Prozent des Jahrgangs, 17 Prozent können sich einige Schwimmtempi lang über Wasser halten, und etwa acht Prozent bleiben auch nach dem Kurs Nichtschwimmer. (Oona Kroisleitner, 10.7.2019)