Im Jahr 1978 entdeckten Paläontologen in der Apidima-Höhle in Südgriechenland die Fragmente zweier menschlicher Schädelknochen, die den Wissenschaftern bis heute Rätsel aufgeben. Aufgrund der Fundumstände ließen sich die Fossilien bisher kaum verlässlich einordnen. Zum einen schien es, als würden sie nicht ganz in die verhältnismäßig junge Schicht passen, in der sie freigelegt worden waren. Zum anderen waren die Knochen so fragmentiert, dass die Experten Schwierigkeiten hatten, sie einer bestimmten Menschenart zuzuordnen.

Darüber hinaus ergaben die Datierungsversuche weitgehend uneindeutige Resultate. Letztlich schlossen die Forscher aus geomorphologischen Untersuchungen zunächst, dass diese zwei Individuen aus dem späten Pleistozän stammten, also aus einem Zeitraum von 190.000 bis 100.000 Jahren vor heute.

Digitale Rekonstruktion

Eine Gruppe um Katerina Harvati von der Universität Tübingen hat sich der menschlichen Überreste nun erneut angenommen und sie eingehend untersucht. Die Paläoanthropologin wählte für ihre Analysen zwei Herangehensweisen, um das Mysterium der Schädel aufzuklären: Sie erstellte gemeinsam mit ihrem Team virtuelle Rekonstruktionen der Fossilien, um einerseits festzustellen, um welche Menschenarten es sich bei den beiden Relikten tatsächlich handelt. Außerdem untersuchten die Forscher die Gebeine mithilfe der Uran-Thorium-Datierung, die auf dem radioaktiven Zerfall von Uran-Isotopen basiert.

Der in Fragmenten erhaltene Schädel Apidima 1 wurde von Forschern um Katerina Harvati von der Universität Tübingen digital Rekonstruiert. Das Ergebnis: Es dürfte sich um einen Homo sapiens handeln, der vor rund 210.000 Jahren lebte.
Foto: Katerina Harvati, Eberhard Karls University of Tübingen

Die Resultate lieferten eine Überraschung, die Auswirkungen auf die bisherige Beurteilung der Frühzeit des Menschen haben könnte: Der ältere der beiden Schädel, der die Bezeichnung Apidima 1 erhielt, weist laut der Rekonstruktion klare Homo-sapiens-Eigenschaften auf und stammt von einem Individuum, das aufgrund der Datierung vor etwa 210.000 Jahren lebte. Damit handelt es sich um den bisher ältesten Hinweis auf die Anwesenheit des modernen Menschen außerhalb Afrikas.

Frühe Auswanderer

Die Ausbreitung des Homo sapiens über den Globus ist bis heute Gegenstand von Diskussionen unter Fachleuten. Immerhin besteht weitgehender Konsens darüber, dass sich der moderne Mensch in Afrika entwickelt hat. Die ältesten bekannten afrikanischen Fossilien unserer Spezies sind zwischen 315.000 und 260.000 Jahre alt. Nachdem Homo erectus Afrika vermutlich in zwei Wellen vor zwei Millionen Jahren und vor etwa 700.000 Jahren verlassen hatte (aus Letzterer entstammen die Vorfahren des Neandertalers), folgte Homo sapiens mit einem bedeutenden zeitlichen Abstand.

Erste offenbar zunächst gescheiterte Auswanderungsversuche dürfte der moderne Mensch schon vor mehr als 200.000 Jahren unternommen haben, wie die aktuellen Funde zeigen – und somit früher als bisher gedacht. Darüber hinaus erreichte der Mensch Europa demnach offenbar um ganze 150.000 Jahre eher als zuvor angenommen.

Man nimmt an, dass Homo erectus und seine Nachfahren dem Erfolg des Homo sapiens zu diesem Zeitpunkt jedoch noch im Weg standen. Wirklich dauerhaft hat sich der moderne Mensch erst vor 90.000 bis 50.000 Jahren jenseits von Afrika etabliert. Entsprechend alte Funde stammen aus Asien und dem Nahen Osten.

Apidima 2 ist mit einem Alter von 170.000 Jahren dagegen deutlich jünger. Die virtuelle Rekonstruktion (links) ergab, dass dessen ursprünglicher Besitzer ein Neandertaler war.
Foto: Katerina Harvati, Eberhard Karls University of Tübingen

Neandertale folgten auf Homo sapiens

In diesen Kontext würden die Funde aus der griechischen Apidima-Höhle gut passen, so die Forscher. Während Apidima 1 nach deren Angaben im Fachblatt "Nature" aufgrund der Rekonstruktion klare Kennzeichen des früheren modernen Menschen zeigt, weist der zweite, Apidima 2 bezeichnete Schädel seinen ursprünglichen Besitzer unter anderem wegen der prominenten Augenbrauenwülste als Neandertaler aus. Dieses Fossil datierten die Wissenschafter um Harvati auf ein Alter von 170.000 Jahren.

Die Paläoanthropologen schließen aus ihren Befunden, dass während des Mittelpleistozäns im heutigen Südgriechenland und insbesondere in der Apidima-Höhle zunächst eine frühe Homo-sapiens-Population existiert haben muss, die später von Neandertalern verdrängt wurde. Diese wiederum mussten einige Dutzend Jahrtausende später erneut dem Homo sapiens weichen – diesmal allerdings endgültig. (Thomas Bergmayr, 10.7.2019)