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1. Juni 2008: In Los Angeles verbrennt eines der größten Musikarchive der Welt – 175.000 Masterbänder sollen zerstört worden sein.

Foto: REUTERS

Die Katastrophe nahm in den Morgenstunden des 1. Juni 2008 ihren Lauf. In den Universal Studios in Hollywood, Los Angeles, hatten Arbeiter das Dach eines Gebäudes auf einem Filmset mit Lötlampen repariert. Trotz einer überwachten Abkühlphase fing das Dach zwischen vier und fünf Uhr früh Feuer und erfasste bald darauf ein Lagerhaus. Eine Wellblechhalle, das Gebäude 6197.

Die Rauchsäule des Feuers war hunderte Meter hoch und kilometerweit zu sehen. Es dauerte den ganzen Tag, das Feuer zu löschen, die Einsatzkräfte kämpften zudem mit zu niedrigem Wasserdruck. Schlagzeilen machten tags darauf nur die zerstörten Kulissen des Studios. Was kaum jemand wusste: Das Gebäude 6197 enthielt das größte Westküstenarchiv der Universal Music Group (UMG), der größten Plattenfirma der Welt.

Beschwigtigungen

Eine Bloggerin machte ein paar Tage später darauf aufmerksam und sprach von tausenden Musikbändern, die dem Brand zum Opfer gefallen sein dürften. Doch ein Sprecher der UMG dementierte: Der Großteil der dort gelagerten Masterbänder sei bereits digitalisiert und umgesiedelt gewesen, es habe kaum Verluste gegeben. In den Tagen nach dem Brand taten Mitarbeiter der UMG alles, um die Berichterstattung klein zu halten. Lediglich Aufnahmen einiger obskurer Künstler seien verloren gegangen, hieß es.

Eine vor kurzem veröffentlichte Recherche der New York Times behauptet etwas anderes: Bis zu 175.000 Masterbänder, von den 1940ern bis in die Gegenwart, sollen damals zerstört worden sein. Die Halle hatte Masterbänder des Labels Decca beherbergt, jene des Jazzlabels Impulse, alle Originale des Chicagoer Blues-Labels Chess, Masterbänder der Label Geffen, MCA, ABC, A&M, Interscope sowie die Kataloge etlicher Sublabels. In manchen Fällen sollen die kompletten Diskografien von Künstlern vernichtet worden sein. Hinzukommen soll, dass etliche Lagerbestände gar nicht inventarisiert gewesen sein sollen. Die New York Times schrieb von der "größten Katastrophe in der Geschichte des Musikbusiness".

Einzigartige Artefakte

Masterbänder sind einzigartige Artefakte. Auf ihnen sind die Originalaufnahmen gespeichert. Sie sind die unersetzbaren Quellen jeder kommerziell verwertbaren Musik und zählen damit zum Weltkulturerbe. Je nach Aufnahmetechnik können das ein oder mehrere Bänder sein, auf denen sich etwa nur das Schlagzeug befindet, auf einem anderen der Gesang. Von Masterbändern gezogene Kopien besitzen die höchste Wiedergabequalität. Je besser das technische Verfahren beim Kopieren ist, desto mehr geben diese Bänder her. Auch noch nach Jahrzehnten. Über 100.000 Aufnahmen mit über 500.000 Einzeltiteln sollen in Los Angeles zerstört worden sein. Ein in der New York Times zitierter Archivar des Gebäudes 6197 schätzt, dass rund 175.000 Masterbänder bei dem Brand vernichtet wurden.

Lange hat das Musikbusiness den Wert seiner Masterbänder gar nicht wirklich geschätzt. Der Schnelllebigkeit des Geschäfts war es geschuldet, dass vieles nicht archiviert wurde. Was keinen Erfolg hatte, wurde überspielt oder entsorgt. Dazu kam, dass ein Archiv Platz, Sorgfalt und Pflege braucht, damit vor allem alte analoge Bänder erhalten bleiben oder digitalisiert werden können. Das kostet.

Von der Kostenstelle zur Goldader

Mit der Einführung der CD änderte sich die Haltung gegenüber dem Archiv. Damals erkannte die Musikindustrie, dass sie ihren Katalog über ein neues Medium ein weiteres Mal verkaufen konnte. Das Archiv, das davor bloß als Kostenstelle ohne großen Nutzen galt, entpuppte sich plötzlich als Goldader. Heute lukriert die Musikindustrie rund 50 Prozent ihres Umsatzes mit Veröffentlichungen aus dem Katalog. Mit remasterten Neuauflagen oder Jubiläumseditionen, die, um unveröffentlichte Titel erweitert, erneut verkauft werden. Je üppiger der Katalog ist, desto höher liegt der Wert einer Firma. Katalogveröffentlichungen sind heute oft Bestseller und die UMG verdient damit sehr gut.

Die Universal Music Group gehört zum französischen Medienkonzern Vivendi. Der hatte im Vorjahr zuerst einen Börsengang der UMG angekündigt, machte aber einen Rückzieher: Das sei zu komplex. Stattdessen kündigte er an, bis zu 50 Prozent der florierenden UMG verkaufen zu wollen. Die Deutsche Bank bewertete die UMG heuer im Jänner mit 33 Milliarden Dollar.

Geistiges Eigentum

Laut New York Times wurde der Verlust des Gebäudes 6197 intern mit 150 Millionen Dollar beziffert. Hinter dieser Zahl stehen die vernichteten Originalaufnahmen von Künstlern wie Fats Domino, Merle Haggard, Louis Armstrong, Ella Fitzgerald, B.B. King, Ike Turner, Quincy Jones, Burt Bacharach, Joan Baez, Buddy Holly, Neil Diamond, Sonny and Cher, The Mamas and the Papas, Joni Mitchell, Captain Beefheart, Cat Stevens, Billie Holiday, The Carpenters, Al Green, John Coltrane, The Flying Burrito Brothers, Elton John, Lynyrd Skynyrd, Eric Clapton, Neil Young, The Eagles, The Who, Joe Cocker, Don Henley, Aerosmith, Steely Dan, Iggy Pop, Rufus and Chaka Khan, Barry White, Yoko Ono, Tom Petty and the Heartbreakers, The Police, Sting, Steve Earle, R.E.M., O.V. Wright, Bobby Bland, Janet Jackson, Eric B. & Rakim, Guns N’ Roses, Mary J. Blige, Sonic Youth, No Doubt, Nine Inch Nails, Snoop Dogg, Nirvana, Soundgarden, Hole, Beck oder Eminem. Und das soll nur die Spitze des Eisbergs sein. Masterbänder von über 800 weiteren Künstlern sollen vernichtet worden sein.

Per Definition sind die Künstler am geistigen Eigentum ihrer Schöpfungen beteiligt. Deshalb dürfen sie erwarten, dass die UMG sicherstellt, dass ihre Masterbänder für weitere Verwertungsmöglichkeiten jederzeit zur Verfügung stehen.

Dieser Sichtweise folgend, haben erste Künstler die UMG nun auf Schadenersatz geklagt: Bands wie Soundgarden, Hole, eine Exfrau von Tom Petty, die Nachlassverwaltung des Rappers Tupac Shakur oder Steve Earle. Es werden wohl nicht die letzten sein, viele Bands haben gerade erst erfahren, dass sie betroffen sein könnten. Zudem hat UMG Geld von der Versicherung des Vermieters der zerstörten Halle erhalten. Davon haben die betroffenen Künstler nichts gewusst und nichts bekommen. Wie zukünftige Verwertungen zu beziffern sein sollen, steht in den Sternen. Die Streitsumme, schätzen Experten, könnte in hunderte Millionen Dollar gehen.

"Zahlreiche Ungenauigkeiten"

Angesichts der eingebrachten Klagen gibt es vonseiten der UMG zurzeit nur ein allgemein gehaltenes Statement, das dem STANDARD vorliegt. Darin wirft sie der New York Times vor, ihre Geschichte enthalte "zahlreiche Ungenauigkeiten, irreführende Aussagen, Widersprüche und grundlegende Missverständnisse über den Umfang des Vorfalls und die betroffenen Vermögenswerte. Tatsächlich werden zehntausende von Katalogveröffentlichungen, die wir in den letzten Jahren veröffentlicht haben, praktisch ignoriert – einschließlich audiophiler Versionen in Masterqualität vieler Aufnahmen, von denen behauptet wird, sie seien zerstört worden."

Hinter der Diskussion um Zahlen und Geld steht die Frage, wie gewährleistet werden kann, dass ein solches kulturelles Erbe besser geschützt werden kann.

Die Filmindustrie hat das schon erkannt, die Musikindustrie hinkt hinterher. Wie der Brand in Gebäude 6197 zeigte, waren nicht einmal die Aufnahmen großer Namen ausreichend geschützt. Welche Wertschätzung dann erst weniger bekannte Titel erfahren, kann man sich ausmalen. Dazu schätzen Experten, dass nur ein Fünftel aller kommerziell verwertbaren Musik sicher und zeitgemäß archiviert ist. Da tickt die Uhr schon lange. Denn an vielen Originalaufnahmen nagt auch ohne zerstörerisches Feuer der Zahn der Zeit. (Karl Fluch, 13.7.2019)