Pietro Orlandi konnte es kaum fassen: "Ich hatte alles erwartet – bloß nicht, dass die Gräber leer sein würden. Das ist doch unglaublich", betonte der Bruder von Emanuela Orlandi Donnerstagmittag auf dem Petersplatz in Rom. Kurz zuvor waren auf dem Campo Santo Teutonico, dem deutschen Friedhof auf vatikanischem Gebiet in Rom, zwei Gräber geöffnet worden.

Er und seine Anwältin hätten "präzise Hinweise" erhalten, auch aus dem Vatikan selber, dass Emanuela in einem der beiden Gräber bestattet worden sei, betonte Orlandi. Die Tochter eines Hofdieners von Papst Johannes Paul II. war 1983 auf dem Rückweg von einer Musikstunde außerhalb des Vatikans spurlos verschwunden und ist bis heute nicht wieder aufgetaucht. Sie war 15 Jahre alt.

Pietro Orlandi vor der Presse.
Foto: Andreas SOLARO / AFP

Anonymes Schreiben

Die Angehörigen des Mädchens, die nach mehr als drei Jahrzehnten immer noch nicht wissen, was ihm widerfahren ist, hatten in Graböffnung große Hoffnungen gesetzt. "Sucht dort, wohin der Engel weist", stand in einem anonymen Schreiben, das die Anwältin der Familie, Laura Sgrò, im vergangenen Sommer erhalten hatte. In dem Briefumschlag befand sich das Foto eines Engels, der auf zwei Gräber des Campo Santo Teutonico hinunterblickt und dessen Hände in Richtung der Grabplatten weisen. Bei den Gräbern handelt es sich um die letzten Ruhestätten von Sophie von Hohenlohe (gestorben 1836) und Herzogin Charlotte Friederike zu Mecklenburg (gestorben 1840).

Die Orlandi-Familie hatte beim Vatikan die Öffnung der Gräber beantragt – und Staatssekretär Pietro Parolin, die Nummer zwei im Kirchenstaat nach dem Papst, hatte dem Ansinnen im Juni zugestimmt. Unter der Aufsicht der vatikanischen Gendarmerie und im Beisein der Anwältin der Familie Orlandi und eines römischen Gerichtsmediziners wurden die Gräber am Donnerstagvormittag eines nach dem anderen geöffnet.

Doch zur Überraschung der Anwesenden fehlte in den Gräbern nicht nur das vermutete Mädchenskelett, sondern auch die sterblichen Überreste derjenigen, die dort eigentlich hätten liegen sollen: die der beiden deutschen Adelsdamen. Unter der ersten Grabplatte befand sich eine rund drei mal vier Meter große Kammer – doch auch diese war leer.

Die Ermittler fanden nichts.
Foto: APA/AFP/VATICAN MEDIA/HANDOUT

Weiterer Mosaikstein

Die leeren Gräber auf dem deutschen Friedhof sind nun ein weiterer Mosaikstein in einem Fall, der längst zu einem der größten Mysterien in der Ewigen Stadt geworden ist. Natürlich hat man sich in Rom am Donnerstag sofort gefragt, ob vielleicht jemand, der Angst vor der Lüftung des Geheimnisses hat, die Gräber vorsorglich ausgeräumt habe. Doch Beweise dafür gibt es, wie immer im Fall Orlandi, natürlich nicht, und so ist dieser Verdacht auch nicht mehr als eine weitere wilde Spekulation in einem "Cold Case", der die Fantasie der Römer wie kaum ein anderer beschäftigt.

Um das – höchstwahrscheinlich traurige – Schicksal der Schülerin ranken sich seit Jahren die wildesten Verschwörungstheorien. Die populärste und morbideste: Emanuela Orlandi sei von Kirchenmännern entführt worden, um sie dann für Sexspiele in der Kurie zu missbrauchen, an denen insbesondere der skandalumwitterte damalige Chef der Vatikanbank IOR, Kardinal Paul Macinkus, aber auch ausländische Diplomaten beteiligt gewesen sein sollen. Später soll die Schülerin nach dieser Theorie getötet und "entsorgt" worden sein.

Das Schicksal der 15-Jährigen ist weiterhin unklar.
Foto: Filippo MONTEFORTE / AFP

Skelett entdeckt

Zunächst waren osteuropäische Geheimdienste oder die türkischen "Grauen Wölfe" hinter der mutmaßlichen Entführung vermutet worden: Die Kidnapper hätten den inhaftierten Papst-Attentäter Ali Ağca freipressen wollen. Laut einer anderen Theorie wurde das Mädchen von der römischen Mafia, der Magliana-Bande, entführt, um von der Vatikanbank eine hohe Geldsumme zurückzuerhalten, die der Bandenboss Enrico De Pedis dem IOR zum Waschen übergeben haben soll. Auch das Grab des auf offener Strasse erschossenen Mafiabosses war vor einigen Jahren geöffnet worden – ohne dass dabei Klarheit geschaffen worden wäre: In der Gruft befanden sich zwar die Gebeine des Gangsters, aber nicht jene von Emanuela.

Zuletzt waren die Überreste Emanuelas in der vatikanischen Nuntiatur in Rom vermutet worden: Bei Bauarbeiten am Pförtnerhaus waren Ende Oktober 2018 ein weitgehend erhaltenes Skelett und weitere Knochen gefunden worden. Anhand von DNA-Analysen und mit der C-14-Methode fand das gerichtsmedizinische Institut von Rom jedoch relativ schnell heraus, dass die Knochen von einem Mann und aus der Zeit vor 1964 stammen – also aus einer Zeit, in der Emanuela noch gar nicht geboren war. (Dominik Straub aus Rom, 11.7.2019)