Foto: Ludovic Marin

Sie ist jung, fotogen, stammt aus dem Maghreb und schreibt über Themen, die man einst für eine Frau als "gewagt" betrachtet hätte. Leila Slimani, "die neue Stimme der französischen Literatur" (Zeit-Magazin) und 2016 mit dem Prix Goncourt für Dann schlaf auch du preisgekrönt, hat einiges zu bieten.

2014 wurde ihr Erstlingswerk zur Sensation. In All das zu verlieren schläft ihre Heldin hinter der Fassade eines bürgerlichen Lebens mit unzähligen Männern. Die Autorin ließ sich vom Fall Dominique Strauss-Kahn inspirieren, der 2011 Frankreich tief erschüttert hat. Der Direktor des Internationalen Währungsfonds, der gute Chancen besaß, sozialistischer Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen zu werden, wurde in New York verhaftet, weil ihn ein Zimmermädchen der Vergewaltigung bezichtigte. Plötzlich war sein ausschweifender Lebenswandel der ganzen Welt bekannt. Die Schriftstellerin war klug genug, das Opferklischee zu vermeiden – Frauen wären immer die Beute und Männer immer Raubtiere. Sie zeigt, dass diese Art von sexueller Bulimie eher mit einem Unwohlsein als mit einer biologischen Fatalität zu tun hat.

Slimani, die auch bissige Essays über die Geschlechterbeziehungen in Marokko schreibt (Sex und Lügen), ist die jüngste Variante einer seit fast zwei Jahrhunderten in der französischen Literaturlandschaft verankerten Figur: der Schriftstellerin, die den Skandal nicht scheut. Das war nicht immer so. Laut der Historikerin Catriona Seth behauptete noch im 17. Jahrhundert Hortense Mancini, die erste Frau in Frankreich, die ihre Memoiren veröffentlichte: "Der Ruhm einer Frau ist, dass man nie über sie redet." Dabei war es diese Art von "intimem Schreiben", die später den Weg für die literarische Erforschung des Individuums öffnete.

Eine Pionierin war in den 1830er-Jahren Aurore Dupin. Als Schriftstellerin wählte sie das männliche Pseudonym "George Sand" (ihre Freundin Marie d'Agoult, Lebensgefährtin von Franz Liszt, hat ihre eigene Texte als "Daniel Stern" signiert). Als ausgewiesene Feministin, die dem utopischen Sozialismus Saint-Simons nahestand, trotzte die fesche Sand Sitten und Gesetzen, indem sie männliche Anzüge trug, Zigarren rauchte und berühmte Liebhaber hatte – wie Frédéric Chopin und Alfred de Musset. Am Höhepunkt der Romantik veröffentlichte sie Indiana und Lelia, Schlüsselromane, in denen zum ersten Mal weibliche Frigidität und männlicher Donjuanismus behandelt werden.

Um 1900 war es Colette. Auch sie hat sich wie ein Mann gekleidet (was außerhalb der Faschingszeit damals verboten war) und pflegte skandalöse Liebschaften, zum Beispiel mit dem jungen Sohn ihres zweiten Ehemanns Bertrand de Jouvenel oder mit ihrem dritten Ehemann Maurice Goudeket, von dessen "Satinhaut" sie schwärmte. Noch dazu hatte sie Liebhaberinnen, unter anderen Liane de Pougy, in der Belle Époque eine bekannte Kurtisane.

Sünde ohne Schuldgefühl

Der Filmregisseur Wash Westmoreland, ein engagierter Gay, hat sich vor kurzem für das literarische Debut dieser großen Sprachstilistin interessiert, besonders für ihre lange Beziehung zu Missy, Tochter des Duc de Morny, die Colette auf der Bühne des Moulin Rouge küsste. Skandal! Die Schauspielerin Keira Knightley ist allerdings zu "british", um einen weiblichen Faun wie Colette zu verkörpern. Diese war so gottlos und sinnlich wie ihre Mutter Sido und wusste diese "Vergnügen, die man leichtfertig 'physisch' nennt" (so der Titel eines ihrer Bücher) bestens zu beschreiben.

Es fällt schwer, sich heute die Welle der Empörung vorzustellen, die ihr Roman Le blé en herbe (Erwachende Herzen) 1923 auslöste. Colette stellte nicht nur die Entjungferung eines Jugendlichen durch eine reifere Frau dar, sie erzählte auch vom "ersten Mal" einer Jugendfreundin des Helden, die kein Schuldgefühl nach der Sünde verspürte: Für manche Konservative war dies zu viel. Bis zu ihrem Tod 1954 blieben Colettes Bücher auf dem Index des Vatikan.

In der Zwischenzeit hatte Simone de Beauvoir 1949 mit Das andere Geschlecht den Feminismus quasi neu erfunden. Sogar der katholische François Mauriac konnte sich einen vulgären Rülpser nicht verkneifen: "Ich weiß jetzt vieles über die Vagina ihrer Chefin", vertraute er einem verblüfften Mitarbeiter der Zeitschrift Les Temps Modernes an. Die Autorin der Memoiren einer Tochter aus gutem Hause brachte die soziale Ordnung durcheinander: Sie weigert sich, im Namen einer gemeinsamen Vorstellung von Freiheit, Sartre zu heiraten, weigert sich, Kinder zu gebären, hat in ihrer Zeit als Lehrerin zweideutige Beziehungen zu ihren Gymnasiastinnen. Und sie pflegt jahrelange Liebesbeziehungen mit jüngeren Männern, wie etwa mit dem zukünftigen Regisseur von Shoah, Claude Lanzmann. Noch dazu empfindet sie eine echte Leidenschaft für den amerikanischen Schriftsteller Nelson Algren. Die Hunderten von Briefen, die Beauvoir ihm geschrieben hatte, wurden 1998 veröffentlicht. Sie haben einige Feministinnen gekränkt, die der "grande Simone" nie verziehen haben, dass sie diese mit "Deine kleine Frau" unterschrieben hat.

Neben Beauvoir darf man den Einfluss Christiane Rocheforts nicht unterschätzen. Ihr Roman Le repos du guerrier (Die Ruhe des Kriegers) von 1958 erzählt die aufopfernde Liebe einer Frau, die einen Alkoholiker vergöttert, weil er ihr den Orgasmus "enthüllt" hat – so nannte man das damals.

Dreißig Jahre später hat Rochefort eine meisterhafte Erzählung über den Inzest geschrieben. La porte du fond (Die Tür dahinten, Prix Renaudot 1988) war ein Schlag ins Gesicht all jener – allen voran der Kinderärztin und Psychoanalytikerin Françoise Dolto -, die behaupteten, inzestuöser Missbrauch sei die Wunschvorstellung kleiner Mädchen, die den eigenen Vater verführen wollen. Last, but not least: die Feministin Benoîte Groult hat in Salz auf unserer Haut (in Deutschland zwei Jahre lang auf der Bestsellerliste) die sinnliche Beziehung einer Pariser Intellektuellen mit einem Seemann inszeniert.

Schwierige Schocks

Viel Wasser ist die Seine hinuntergeflossen, seitdem die Verlegerin und Schriftstellerin Régine Deforges (1935-2014) immer wieder neben ihrem Kollegen Jean-Jacques Pauvert vor Gericht stand, weil ihnen unter General de Gaulle und Präsident Pompidou vorgeworfen wurde, "obszöne" Bücher herauszugeben. In einer Zeit, in der man Porno auf dem Smartphone konsumiert und Hausfrauen SM-Romanzen lesen, wird es zunehmend schwierig zu schockieren.

Virginie Despentes ist es gelungen. Für die Verfilmung (2000) ihres Romans Baise-moi (Fick mich) hat sie als Koregisseurin Coralie Trinh Thi erwählt (die Autorin von Osez la sodomie und Osez le cunnilingus), mit den Pornostars Karen Lancaume und Raffaëla Anderson in den Hauptrollen: Für die Zensoren war es unerträglich, dass die Heldinnen Männer mit Maschinenpistolen niedermähen. Despentes, eine bisexuelle Feministin, die sich für die lesbische Liebe entschieden hat, bleibt ein Idol der Millennials. Die Theaterbearbeitung ihres Manifests King Kong Théorie wurde in Paris von einem meist jungen Publikum besucht.

Obwohl sie eine Rückkehr der Prüderie in die Kunst beklagt, schloss sie sich Anfang 2018 nicht jenem offenen Brief an, in dem etliche prominente Frauen in Le Monde die Bewegung #MeToo kritisierten und "das Recht (der Männer, Anm.) zu belästigen" als die Kehrseite der sexuellen Freiheit darstellten. Unterzeichnet hatten Catherine Deneuve und Catherine Millet, Chefredakteurin der Zeitschrift Art Press, seit 2001 vor allem für ihre offenen Geständnisse in La vie sexuelle de Catherine M. bekannt – das Buch wurde in 44 Sprachen übersetzt. Unter denen, die gegen die "Petition Deneuve" waren, war auch Slimani, welche in Libération eine ätzende Kritik schrieb.

Das Problem: Der Deneuve-Text stammt von privilegierten Intellektuellen, die selten um ihre Rechte kämpfen mussten; und von Frauen über 50, die das "Recht zu belästigen" anders als jüngere wahrnehmen. Da gibt es einen Bruch der Generationen. Der Erfolg des Essays von Mona Chollet: Sorcières. La puissance invaincue des femmes (Hexen. Die unbesiegte Macht der Frauen), seit Monaten in Frankreich auf der Bestsellerliste, bestätigt es – ihre Leser sind vorwiegend junge Frauen.

Die #MeToo-Welle hat einen nationalen Mythos beschädigt, den die Historikerin Mona Ozouf 1995 in ihrem schönen Buch Les mots des femmes. Essai sur la singularité française (Die Wörter der Frauen. Eine französische Singularität) geschaffen hat. Laut ihr hat das "andere Geschlecht" in Frankreich seit den Salons des 18. Jahrhunderts ruhigere und spielerische Beziehungen zu den Männern knüpfen können als in der angelsächsischen Welt. Diese These, die von US-Feministinnen scharf kritisiert wurde, ist nicht ganz falsch. Sie hat aber zu viele Französinnen dazu gebracht, sich Illusionen über eine Kultur, in der die Kunst der Verführung zentral ist, hinzugeben. (Joëlle Stolz, 13.7.2019)