Statements für eine dichte Stadt: Die Rotterdamer Markthalle ist zugleich ein Wohnkomplex.

Foto: MVRDV

Der Silodam steht wie ein Containerschiff im Amsterdamer Hafen und bietet Behausungen für jeden Geldbeutel.

Foto: Architekturbüro MVRDV

Sie schaut ein wenig aus wie eine riesige Biskuitroulade, und man könnte in ihr locker ein Fußballspiel veranstalten oder ein Flugzeug parken. Dank des leuchtend bunten modernen Freskos, das die gigantischen 11.000 m2 ihrer gewölbten Innenseite überzieht, wird sie mitunter die "Sixtinische Kapelle von Rotterdam" genannt, und aus 40 Meter Höhe schauen Menschen aus ihren Wohnzimmerfenstern direkt auf die Marktstände hinunter.

Die Rotterdamer Markthal hat wenig mit unseren gängigen Vorstellungen zu tun, sondern ist ein Statement für eine völlig neue Form des hybriden Gebäudes. Winy Maas, Nathalie de Vries und Jacob van Rijs stellten sie 2014 in den zentrumsnahen Stadtteil Laurenskwartier und hievten ihr 1993 gegründetes Architekturbüro MVRDV damit endgültig in die Liga der international interessantesten und experimentierfreudigsten Büros. Inzwischen ist es auf 250 Mitarbeiter angewachsen und baut überall auf der Welt und in jedem Maßstab.

Sandwich aus Landschaftstypen

"Wir wollten keine monofunktionale Halle, sondern einen gemeinschaftlichen Raum für die Stadt", sagt Nathalie de Vries. So nehmen die Rotterdamer ihre Markthalle auch an – und sie können sogar darin wohnen. Denn das Dach dieses Gebäudes ist eben nicht nur Dach, sondern ein hufeisenförmig über die Marktlandschaft gekrümmter Wohn- und Bürokomplex. So ein radikal ungewohnter Nutzungsmix ist in fast allen MVRDV-Projekten zu finden, weil er für die Lösung eines wesentlichen Problems enormen Sinn macht: Strategien für eine gesunde Form der Verdichtung zu finden.

Ohne die geht es in unseren Städten schon lange nicht mehr, aber es wird dabei oft noch langweilig monofunktional gedacht. "Wir müssen die beschränkte Fläche effizient nutzen und die Stadt mit all ihren Funktionen dreidimensional denken", sagt Nathalie de Vries. Dabei sollten wir noch viel mehr Elemente unserer Umgebung in die Gebäude integrieren – öffentliche Plätze, die Natur, einen Wald, vielleicht sogar eine Schweinefarm. So ein Sandwich aus holländischen Landschaftstypen hatten die damals noch weniger bekannten Newcomer für die Expo 2000 in Hannover übereinandergestapelt und damit die Diskussion über neue, multifunktionale Programme für urbane Gebäude angefacht.

Eine neue Idee vom Leben

Damals waren in Holland die Popstars der europäischen Architektur zu Hause. Sie waren laut, bunt und lebendig, hatten keine Angst vor Ironie und Witz und probierten aus, was anderswo noch nicht denkbar war. Zudem wurde den Jungen etwas zugetraut, man musste nicht erst graumeliert und preisgekrönt sein, um einen Auftrag zu bekommen. Architektur war populär, und diese Begeisterung wurde von der Politik unterstützt – durch öffentliche Bauaufträge, Förderfonds und die Gründung wichtiger Vermittlunginstitutionen.

Viele holländische Bauten waren und sind mehr Konzept als Kunstwerk, sie wollen keinen formalen Stil etablieren, sondern Manifeste für eine neue Idee vom Leben in der Stadt sein. So auch das Wohnprojekt Silodam, das MVRDV wie ein knallbuntes Containerschiff in den Amsterdamer Hafen stellte und das noch immer als Manifest ihrer architektonischen Haltung gilt. Nathalie de Vries bezeichnet es als "Museum der Typen", weil es alles, was im Wohnbau als rational und ökonomisch galt, auf den Kopf stellte.

Vielmehr will es in dem extrem verdichteten Stapel auf lustvolle Weise Diversität schaffen – eine Vielfalt an Wohnkonzepten in allen Preisklassen, die die Vielfalt der Gesellschaft abbildet. "Eine typisch holländische Idee", meint de Vries. "Wir halten nicht so viel von Hierarchien." Die Wohncluster sind an der Fassade ablesbar, im Inneren bilden sie überschaubare Nachbarschaften, und die Bewohner teilen sich kollektive Räume.

Wieder eines der MVRDV-Entwurfsprinzipien: Strukturen schaffen, die sich Menschen gemeinschaftlich aneignen können. In dieser Richtung gehen ihre Experimente noch viel weiter: Das "Vertical Village" ist ein Denkmodell, das MVRDV als Antwort auf die rasende Transformation asiatischer Metropolen entwickelt hat. Ein zeitgenössisches vertikales Dorf aus unterschiedlichsten Bauelementen könnte individuelle Wohnbedürfnisse mit Vielfalt, Flexibilität und Kollektivität verbinden, und das in einem Turm mit wenig Flächenverbrauch.

Spielerisch auf dem Punkt

Verdichtet haben die Rotterdamer auch die Räume des Innsbrucker aut (Architektur und Tirol) selbst, wo sie in der aktuellen Ausstellung "Architecture Speaks – The Language of MVRDV" zum 25-jährigen Bürojubiläum auf die eigene Arbeit zurückschauen, aber ebenso weit vorausdenken. In einer Installation aus vier begehbaren Türmen, eigens für das aut konzipiert, bringen Nathalie de Vries und aut-Leiter Arno Ritter das Architekturvokabular der Holländer so spielerisch auf den Punkt, wie es ihren Projekten entspricht: ein pinker Pixelturm erzählt von der kleinsten Raumeinheit, flexibel wandelbar für zukünftige Funktionen.

Eine gelbe Textilinstallation zeigt, warum Dichte nicht ohne Stapeln möglich ist und das auch noch Spaß machen kann. Ein blauer Kubus führt vor, dass es das ideale Haus nicht gibt, sondern unendlich viele ideale Häuser, die dennoch keine flächenfressenden Vorortsiedlungen bilden müssen. Und eine mehrgeschossige bekletterbare Gerüstkonstruktion mit holländisch-tirolerischer Pflanzenfassade vermittelt, dass Gebäude uns aktivieren und zu ungewohntem Verhalten herausfordern können – ganz abgesehen davon, dass sie in Zukunft auch die Luftqualität verbessern, die Umgebung kühlen oder zumindest Teil eines Ressourcenkreislaufs ohne Abfall sein sollten.

MVRDV glaubt an eine durchmischte, tolerante, lebenswerte und nachhaltige Stadt, die "so viele Träume wie möglich zulässt". Ein Optimismus, der an- und in der aut-Sommerausstellung drinsteckt. (Nicola Weber, 14.7.2019)