Sowohl in Deutschland als auch in Österreich stoßen die Grünen gerade auf große Zustimmung. Doch die Zeit der grünen Wohlfühlpolitik hat ein Ablaufdatum, mahnen die Publizisten Nils Heisterhagen und Stefan Laurin im Gastkommentar.

Es gibt Parteien, die regelrechte Wunschmaschinen sind und Projektionsflächen ihrer Anhänger. Diese Parteien sind sich nicht so ganz klar darüber, was sie denn überhaupt wollen, und schon gar nicht darüber, wie sie ihre Ziele genau erreichen wollen.

Gewaltige Projektionsfläche

Die Piratenpartei war es 2012, die FDP im Bundestagswahlkampf 2017, und in dieser Saison sind es die Grünen. Während CDU und SPD in der unglamourösen großen Koalition feststecken und vor allem gegen den eigenen Bedeutungsverlust ankämpfen, sind die Grünen die aktuelle Projektionsplattform für die Wünsche der Wähler: Sie sollen das Klima retten, soziale Gerechtigkeit schaffen, auf dem Mittagsteller für ökologische Ordnung sorgen, die Grenzen für Zuwanderung öffnen und vor allem die AfD bekämpfen.

In den Umfragen liegen sie zurzeit bei 26 Prozent – für die sind sie eine gewaltige Projektionsfläche, größer als die anderen Parteien es zuvor waren. Und ihre Projektionsfläche trägt sie viel höher. Die Grünen machen Spaß, retten nebenbei die Welt und wollen scheinbar niemandem mehr etwas verbieten, obwohl das nicht stimmt. Ihr alter Pietismus kommt nun fröhlicher daher. Deutschland ist da nicht anders als Österreich. Auch hier reüssieren die Grünen und legen deutlich zu.

Wer kann sich Robert Habeck vorstellen, wie er Massenarbeitslosigkeit managt oder erfolgreich mit Donald Trump umgeht?
Illustration: Felix Grütsch

Die Wünsch-dir-was-Partei

Was ihre Politik allerdings an Geld und Jobs kostet, interessiert momentan kaum jemanden. Die Grünen sind die Wünsch-dir-was-Partei des Jahres. Sie machen Laune. Realismus und konkrete Ansagen scheinen da nur zu stören. Gestützt wird diese mediale Stimmung durch die Schülerbewegung Fridays for Future, die das Ökologiethema zum Thema der Stunde und die Grünen zum Sprachrohr einer kulturellen Hegemonie macht.

Was sind die Grünen eigentlich für eine Partei? Die Grünen sind die Partei eines Sonnenscheinliberalismus, der seine Stärke erstens daraus gewinnt, dass wir seit 2009 einen der längsten Konjunkturzyklen der Nachkriegsgeschichte erleben und genug Menschen aus der – oberen – Mittelschicht, die davon profitiert haben, relativ satt, zufrieden und glücklich sind und die Grünen ihnen die entsprechende Wohlfühlstimmung dafür geben.

Nur-mit-uns-Attitüde

Mit ihrer inszenierten Lockerheit gelingt es ihnen zurzeit zu überspielen, dass sie ähnlich wie die AfD eigentlich eine Partei der Angst sind. Was für die Blauen der Migrant, ist für die Grünen ein schöner Sommer: Ein Anlass, die Apokalypse heraufzubeschwören und Ängste zu mobilisieren, die jeden Kompromiss als Verrat erscheinen lassen.

Klimapolitik gibt es bei den Grünen nur ganz oder gar nicht. Sie ist existenziell aufgeladen. Wirksame Klimapolitik, so wird suggeriert, könnten nur sie, und alles andere wäre der Untergang. "Nur mit uns" ist die Attitüde. Bei konkreter Nachfrage, was denn "wirksame Klimapolitik" sei und wie das mit einer Industrienation kompatibel sein soll, bleiben die Grünen zuweilen sehr wortkarg. Da ist sie wieder, die Projektionsfläche, die niemanden mit allzu Eindeutigem verprellen will.

Doch mit etwas gutem Willen und Folgsamkeit, versprechen die Grünen, werden Wohlstand, gesellschaftliche Liberalisierung und Ökologie schon irgendwie zusammenpassen. Alles geht. Man müsse nur Zuversicht haben. Das Versprechen wird momentan geglaubt. Der Sonnenscheinliberalismus wirkt.

Klaviatur der Stimmungspolitik

Der feste Sonnenscheinliberalismus der Grünen passt zum medialen Zeitgeist. Denn er gewinnt zweitens seine Stärke aus der robusten Einbildung vieler in Kontinentaleuropa, dass der liberale Fortschritt kaum aufzuhalten ist. Das Versprechen vom "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) wurde den Europäern Anfang der 1990er-Jahre gemacht, und keiner glaubte und glaubt so stark daran wie wir in Europa.

In so einer Stimmung eines Endes aller großen Konflikte und in dem Glauben an den guten Fortgang der Geschichte inklusive ihrer ökonomischen Prosperität können solche diskurspolitischen Formationen wie die Grünen gewinnen, weil sie gelernt haben, auf der Klaviatur der Stimmungspolitik zu spielen. Sie verströmen Optimismus und jenen Glauben an das Gute und den Fortschritt besser als alle anderen.

Neue Bipolarität

Der Punkt ist nur: Sie irren. Sie sind wie diese Kinder, denen man erzählt, dass das Gewitter an einem vorbeiziehen wird, und die das naiv ihren Eltern glauben. Längst zieht so ein Gewitter auf und dreht sich in unsere Richtung. Eine neue Bipolarität entsteht auf der Welt. China und die USA kämpfen um die Hegemonie. Ihr Handelskrieg ist dafür der Beginn. Unter Donald Trump haben die USA begriffen, dass die Globalisierung nicht irgendwie alle Boote hebt und alle durch sie gewinnen. Die Konsequenz heißt Attacke. Momentan trifft die Attacke noch China als den neuen Hauptgegner. Doch an Europa wird dieser Großkonflikt nicht vorbeigehen. Die USA und China haben ihre Interessen. Das wird Europa bald deutlicher spüren.

Und die Idee, dass die Globalisierung Vorteile für alle bringt und ökonomischer und sozialer Fortschritt für alle quasi automatisch und dauerhaft passiert, diese Idee ist anno 2019 tot. Nur die Grünen haben das noch nicht begriffen und sind erfolgreich, weil es viele Bürger auch noch nicht begriffen haben. Die Herausforderung des epochalen digitalen Wandels der Art und Weise des Wirtschaftens und Arbeitens kommt noch hinzu. Wir haben keine rosigen Zeiten vor uns, wo alles glattlaufen wird. Der Sonnenscheinliberalismus wird schon bald von einem neuen Realismus abgelöst werden müssen. Denn schon bald wird klar: So geht das alles nicht mehr weiter.

Keine rosigen Zeiten

In Deutschland etwa entlassen bereits einige Großkonzerne spürbar Personal. Auch das Thema Kurzarbeit in der Industrie ist zurück. Sobald nun wieder Massenentlassungen drohen, wird auch der breiten Masse wieder klar werden: Von nichts kommt nichts. Und nichts geht je gerade seinen Weg. Vor allem: Fortschritt ist nichts, worauf man ein Abo hat und was dazu noch nahezu kostenlos geliefert wird. Selbst Akademiker sind bei den neuen Wellen der bereits stattfindenden Digitalisierung nicht vollends sicher vor jeder Veränderung am Arbeitsmarkt. Das ist keine Schwarzmalerei. Der Journalist Markus Dettmer schrieb gerade in einer Wirtschaftsanalyse im deutschen "Spiegel": "Die Digitalisierung ist für viele bedrohlich, weil sie die Mitte der Arbeitsgesellschaft angreift." So ist es.

Die Grünen werden dabei mit ihrem Sonnenscheinliberalismus kaum in der Lage sein, mit einer Wirklichkeit klarzukommen, in der das Wohlfühlklima nicht mehr das Klima ist, sondern Angst und Sorge vorherrschen und materialistische Kernthemen zu verhandeln sind. Denn im Ernst: Wer kann sich Robert Habeck vorstellen, wie er Massenarbeitslosigkeit managt oder erfolgreich mit China und Donald Trump umgeht und zu einer Selbstbehauptung Europas beiträgt? So jemanden wie Robert Habeck verspeist Donald Trump zum Frühstück. Das klingt polemisch. Aber da ist ein Stück Wahrheit dran. Österreich steht hier vor den gleichen Problemen wie Deutschland. Eigentlich steht ganz Europa jetzt vor einer neuen Zeit. Und es müsste eigentlich zu einer "europäischen Selbstbehauptung" kommen. Und dazu braucht es Spitzenpersonal, das sich dessen bewusst ist.

Irgendwann bald also, wenn die Wirtschaftsdaten spürbar schlechter werden sollten, werden viele grüne Fans erkennen müssen, vor allem diejenigen unten den Journalisten, dass die Grünen eben nicht die Beatles, sondern nur die Bay City Rollers sind: eine kurze, heiße Liebe, die keinen Bestand mehr hat, wenn es ernst wird. (Nils Heisterhagen, Stefan Laurin, 13.7.2019)