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Was der Klimawandel mit der Erde macht, verstehen die meisten Menschen. Es gibt mehr Hitze, Unwetter und Dürren. Dass manche Systeme aber völlig aus dem Gleichgewicht gebracht werden könnten und dann von sich aus die Klimakrise noch verschärfen würden, ist komplizierter. Wie bei einem Kajak sei das, sagt die Klimaforscherin Ricarda Winkelmann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Am Ende reicht eine kleine Bewegung, und das Kajak kippt unaufhaltsam um. Sie erklärt, welche Kipppunkte es im Klimasystem gibt und was wir darüber wissen.

Das Eis in der Arktis reflektiert Sonnenlicht ins All und kühlt damit die Erde. Schmilzt es und blitzt der dunkle Ozean auf, trägt das zusätzlich zur Erhitzung der Erde bei.
APA/AFP/NATURE PUBLISHING GROUP/

STANDARD: Sie waren vergangenes Jahr in der Antarktis unterwegs. Nach dem Rechten schauen sozusagen. Was haben Sie da getan?

Winkelmann: Wir haben uns vor allem die Interaktion zwischen schwimmendem Meereis und dem Ozean angeschaut. Dabei haben wir mit sogenannten Licht- und Salzharfen untersucht, wie sich Lichteinfall und Salzgehalt im Meereis verändern. Auch wenn das sehr lokale Änderungen sind, hat das eine große Bedeutung für das globale Klima und die Ozeanzirkulation.

STANDARD: Auch das arktische Meereis spielt ja eine große Rolle fürs Klima. Welche?

Winkelmann: In der Arktis lässt sich über die letzten Jahrzehnte ein starker Rückgang des Meereises beobachten, der mit der globalen Erwärmung zusammenhängt. Wenn sich die Eisdecke zurückzieht, treibt das aber wiederum die Erwärmung an. Meereis ist sehr hell an der Oberfläche und reflektiert daher einen Großteil der Sonnenstrahlung ins All. Wenn es schmilzt, kommt darunter der dunklere Ozean zum Vorschein, was eine Verstärkung der Erwärmung zur Folge hat.

STANDARD: Erwärmung führt von ganz allein zu mehr Erwärmung. Ist das einer der Kipppunkte?

Winkelmann: Die Kipppunkte im Klimasystem – das sind gewissermaßen die Risiken am Horizont. Die Erderwärmung allein birgt ja schon viele Risiken: Mehr Wetterextreme, den Anstieg des Meeresspiegels und den Verlust von Ökosystemen – diese Klimafolgen können zu Ernteausfällen, dem Ausbruch von Krankheiten bis hin zu Konflikten und Migration beitragen. Viele dieser Risiken wachsen graduell mit der weiteren Erwärmung, das heißt, je wärmer es wird, desto höher das Risiko.

STANDARD: Und die Risiken am Horizont – die Kipppunkte?

Winkelmann: Einige Teile des Klimasystems haben einen kritischen Schwellwert. Das sind die sogenannten Kipppunkte. Wenn ein solcher kritischer Punkt erst einmal überschritten ist, kommt es zu starken Veränderungen des Systems, die teilweise unaufhaltsam und unumkehrbar sein können. Das kann man sich so wie bei einem Kajak vorstellen. Wenn man sich zu weit rauslehnt, kippt es plötzlich um. Eine kleine Änderung hat große Konsequenzen.

STANDARD: Und einer dieser Kipppunkte liegt beim Schmelzen des grönländischen Eises?

Winkelmann: Genau. Im grönländischen Eispanzer sind etwa sieben Meter Meeresspiegelpotenzial gespeichert – ein wahrer Meeresspiegelgigant. Was macht Grönland zum Kippelement? Den entscheidenden Mechanismus kennen wir alle vom Wandern. Weiter oben auf dem Berg ist es kälter, unten wärmer. Wenn in Grönland die Eisdecke also abschmilzt, kommt sie in tiefere Lagen, wo es wärmer ist. Dadurch kann wiederum mehr Eis an der Oberfläche schmelzen – und so weiter und so fort. Das ist ein sich selbst verstärkender Mechanismus – wenn eine kritische Temperatur erst einmal überschritten ist, ist dieser Prozess dann quasi nicht mehr aufhaltbar.

STANDARD: Sehen wir das jetzt schon?

Winkelmann: Je wärmer es wird, desto größer ist das Risiko, dass dieser Kipppunkt überschritten wird. Ergebnisse aus Modellsimulationen zeigen, dass die kritische Temperatur bei 0,8 bis 3,2 Grad Erwärmung liegt.

STANDARD: Wir stehen aber jetzt schon bei einem Grad.

Winkelmann: Wir befinden uns schon in diesem kritischen Korridor. Das zeigt auch, wie wichtig es ist, die zugrundeliegenden Mechanismen noch besser zu verstehen. Es gibt weitere Kippelemente, deren kritischer Wert womöglich innerhalb der Pariser Klimaziele von 1,5 bis zwei Grad liegt. Dazu gehören neben Grönland auch die Westantarktis, die Gebirgsgletscher, das arktische Meereseis und die Korallenriffe. Für Letztere zeigen sogar neueste Forschungsergebnisse bereits, dass zwei Grad schon zu viel sind.

STANDARD: Die Klimaforschung ist mit wahnsinnig großen Unsicherheiten behaftet. Warum?

Winkelmann: Es ist ein extrem komplexes System. Kippelemente agieren etwa nicht losgelöst voneinander, sie beeinflussen sich wechselseitig. Entscheidend ist aber, dass wir die Physik dahinter, die Mechanismen, immer besser verstehen.

STANDARD: Ein anderes Kippelement, das es immer wieder in die Medien schafft, ist der Permafrost. Was hat es damit auf sich?

Winkelmann: Der Permafrost – oder Dauerfrostboden – ist ein wichtiger Kohlenstoffspeicher, der mehr als 1000 Milliarden Tonnen Kohlenstoff enthält. Er findet sich zum Beispiel in Alaska oder Sibirien. Taut der Permafrost durch den Klimawandel beschleunigt ab, werden große Mengen an Treibhausgasen freigesetzt, die für Jahrhunderte in der Atmosphäre bleiben und zu zusätzlicher globaler Erwärmung führen. Das macht den Permafrost zu einem bedeutenden Kippelement im Klimasystem. Der genaue Kipppunkt für die einzelnen Permafrostregionen ist allerdings schwer zu bestimmen.

STANDARD: Auch der Amazonas-Regenwald gilt als Kippelement.

Winkelmann: Auch hier kann es zu einem selbstverstärkenden Prozess kommen, da ein Großteil der Niederschläge aus über dem Wald verdunstetem Wasser stammt. Bereits heute sind die Regenwälder in der Amazonasregion vom Klimawandel betroffen. Mit zunehmender globaler Erwärmung wird es im Amazonasbecken wahrscheinlich vermehrt Dürren geben, die die Baumsterblichkeit und das Brandrisiko erhöhen. Zusätzlich zum Klimawandel stellt die fortschreitende Abholzung von Waldgebieten ein mindestens genauso großes Risiko dar. Für das Weltklima hat das eine entscheidende Bedeutung, denn noch wird ein Großteil des CO2 durch Wälder und andere Vegetation sowie durch Ozeane aufgenommen.

STANDARD: Der Golfstrom als Kippelement – was hat es damit auf sich?

Winkelmann: Die Atlantikzirkulation, häufig auch als Golfstrom-System bezeichnet, wird durch Dichtedifferenzen, also Unterschiede im Salzgehalt und in der Temperatur des Wassers, angetrieben. Mehr Süßwasser im System, zum Beispiel durch das beschleunigte Schmelzen des grönländischen Eises, kann diese Zirkulation abschwächen. Verstärkte Niederschläge und Eisschmelze können diese Zirkulation abschwächen. Im äußersten Fall sprechen wir von einem langfristigen Stillstand der Zirkulation, das hätte dann wirklich drastische Konsequenzen für Natur und Mensch. Aber auch eine Abschwächung ist schon spürbar, denn die Atlantikzirkulation bestimmt auch unser Wetter in Europa entscheidend mit.

STANDARD: Wenn ein System kippt, wie schnell ist das spürbar?

Winkelmann: Ist ein Kipppunkt überschritten, heißt das nicht, dass die Änderungen über Nacht eintreten. Entscheidend ist: Angestoßen werden sie durch unser heutiges Tun. Was wir in den nächsten paar Jahren machen, hat also Konsequenzen über Jahrhunderte bis Jahrtausende. Das macht deutlich: Der Mensch ist wirklich zu einer geologischen Kraft geworden. Bis ein Gebiet in Grönland oder der Antarktis völlig eisfrei ist, dauert es vermutlich mehrere Jahrhunderte.

STANDARD: Manche meinen, irgendetwas wird sich die Wissenschaft schon einfallen lassen.

Winkelmann: Die Wissenschaft hat die Fakten längst geliefert: Nur durch die entschlossene Reduktion von CO2-Emissionen können Klimarisiken wirksam begrenzt werden. Technische Ideen, in einzelne Prozesse einzugreifen, zum Beispiel Betonmauern unter das Eis zu bauen, haben zum einen teils unüberschaubare Nebenwirkungen, zum anderen ist unklar, wie wirksam sie sind.

STANDARD: Was kann der/die Einzelne tun?

Winkelmann: Um die Klimaziele zu erreichen und die globale Erwärmung wirkungsvoll zu begrenzen, müssen wir bis 2050 auf der Welt CO2-neutral werden. Das erfordert starke politische, aber auch persönliche Maßnahmen. Es gibt das sogenannte Global Carbon Law. Es besagt, dass wir unsere Emissionen jedes Jahrzehnt halbieren müssen, um bis 2050 CO2-neutral zu werden. Das ist ein Grundsatz, den man sich auch persönlich zu eigen machen kann.

STANDARD: Geht das überhaupt?

Winkelmann: Es gibt ein paar einfache Hebel, etwa das Auto einmal stehen lassen und mit dem Fahrrad fahren oder den Zug statt den Flieger zu nehmen, wenn es möglich ist. Das sind Anfänge, die uns dann möglicherweise weiter antreiben können. Sie könnten quasi unser Verhalten positiv kippen lassen. (Andreas Sator, 14.7.2019)

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