Chris Chiu vor dem Logo von Sigono.

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STANDARD: Wieso sind Sie als österreichischer Spieleentwickler nach Taiwan gezogen?

Chris Chiu: Meine Eltern sind taiwanesischer Abstammung, ich habe also immer schon einen Bezug zu Taiwan gehabt. Nach Taipeh gezogen bin ich aber ganz klassisch "wegen der Liebe". Meine Frau ist Taiwanesin, und ich bin vor vier Jahren, nach dem Abschluss ihres Violinstudiums auf der Linzer Bruckner-Universität, mit ihr nach Taiwan gezogen.

STANDARD: Welche Ausbildung haben Sie?

Chiu: Ich habe auf der TU Wien Informatik studiert mit Spezialisierung auf Computergrafik und Realtime-Rendering. Für meine Diplomarbeit am Institut für Computergrafik habe ich eine 3D-Game-Engine entwickelt, ich hatte also schon während des Studiums eine starke Affinität zu Spieleentwicklung.

STANDARD: Sie haben Erfahrung bei österreichischen Spieleschmieden – inwiefern unterscheidet sich die Arbeit in Taiwan davon?

Chiu: Im täglichen Ablauf ist es sehr ähnlich. Bezüglich Arbeitsrecht ist Österreich aber aus Sicht des Mitarbeiters meilenweit vorne. Das betrifft Bereiche wie bezahlten Urlaub: In Taiwan hat man erst nach sechs Monaten Anspruch auf drei bezahlte Urlaubstage plus 14 Tage unbezahlten Urlaub. Mit jedem Arbeitsjahr in derselben Firma kriegt man ein paar bezahlte Urlaubstage dazu. Das heißt, man muss schon ein Jahrzehnt bei einer Firma sein, damit man auf die in Österreich üblichen 25 bezahlten Urlaubstage kommt.

Hinsichtlich der Überstunden gibt es ähnliche Arbeitsgesetze wie in Österreich, etwa ein Limit von maximal zwölf Stunden pro Tag und 60 Stunden pro Woche. In Taiwan ist es übrigens sehr üblich, in der Arbeit ein kurzes Nickerchen oder einen Powernap in der Mittagszeit einzulegen. Was ich am meisten vermisse, ist eine Gleitzeitregelung. So was gibt es in Taiwan überhaupt nicht.

STANDARD: Was machen Sie konkret bei Sigono?

Chiu: Ich bin hier Senior Programmer und meistens zwei Bereichen zugeteilt. Einerseits dem Operations-Bereich, der sich um Web-Tools für Teammanagement sowie Updates, neue Inhalte und Bugfixes in unseren Spielen kümmert. Andererseits bin ich auch im Entwicklerteam, das derzeit an einem noch unangekündigten neuen Titel arbeitet, das nimmt derzeit den größeren Teil meiner Zeit ein. Also quasi Programmierer für "eh alles".

SIGONO

STANDARD: Welche Märkte spricht Sigono konkret an?

Chiu: Sigono ist ein kleines Indiegame-Studio mit 22 Mitarbeitern, das storyfokussierte Spiele entwickelt. Unsere bereits veröffentlichten Spiele, Opus: The Day We Found Earth und Opus: Rocket of Whispers sowie Rocket of Whispers: Prologue, sind im weitesten Sinn eine Kombination von Adventure/Puzzle-Game und Visual Novel im Sci-Fi-Setting und haben auch Preise wie den IMGA-Award oder einen Famitsu-Platin-Award gewonnen. Unsere Storyschreiber haben als Ziel, Geschichten zu liefern, die auch emotional berühren; Vorbilder sind etwa Filme des Studios Ghibli oder auch andere japanische Animationsfilme wie etwa Your Name von Makoto Shinkai.

Unser Zielmarkt ist – im Gegensatz zu vielen anderen asiatischen Games vor allem im Mobile-Sektor – der internationale Markt, also auch Amerika und Europa, nicht nur Asien. In Europa sind wir, soweit ich weiß, noch nicht sehr bekannt, aber in Nordamerika haben wir durchaus viele Fans, ein paar sogar so leidenschaftlich, dass sie etwa Plüschfiguren von unseren Charakteren basteln oder erst letzte Woche ein Fan aus den USA, der sich ein Tattoo hat stechen lassen mit einem grafischen Symbol aus einem unserer Spiele.

STANDARD: Crunch ist immer wieder Thema bei der Entwicklung von Games – waren Sie damit schon einmal konfrontiert?

Chiu: Ich glaube, dass sich das bei so dynamischen Projekten wie Spielen kaum komplett vermeiden lässt, vor allem wenn man ein Spiel im Auftrag eines Publishers entwickelt. Bei Sproing gab es zu meiner Zeit nur wenige Zeiten, wo wir mal länger im Büro waren. Das war aber insgesamt nur sehr selten im Vergleich zu den Crunches, von denen man in AAA-Projekten in letzter Zeit öfter hört.

Ein paar Bekannte von mir, die früher bei Rockstar Vienna waren, hatten jedenfalls Erzählungen von weitaus mehr Crunch, als das bei Sproing oder Greentube je der Fall war. Im Büro gecampt, so wie eine Legende in der Wiener Entwicklerszene lautet, habe ich selbst jedenfalls nie.

Auch bei Sigono ist die Situation entspannter, da wir ein Indiegame-Studio sind und daher nicht primär für Publisher arbeiten. Wir haben zwar einen Publisher für unsere Nintendo-Switch-Versionen, da kann es dann durchaus mal zu ein paar Überstunden kommen vor einem Release, aber es ist sehr selten.

SIGONO

STANDARD: Wie sehen Sie die Situation von Spieleentwicklern in Österreich? Ist es ein gutes Pflaster, oder sollte man als talentierter Entwickler lieber das Weite suchen?

Chiu: In Österreichs Spieleentwicklerszene gibt es Phasen, die in Wellen kommen. Mal geht es richtig gut, und dann kommt plötzlich wieder eine Welle, wo ein Studio nach dem anderen zusperrt.

Ich glaube aber, dass Österreich ein gutes Sprungbrett auch für Leute mit AAA-Ambitionen ist. Viele meiner ehemaligen Kollegen von Sproing sind in aller Welt verstreut – bei Firmen wie WB Games, Eidos Montreal, Ubisoft, Havok, IO Interactive – und haben an bekannten Großproduktionen mitgewirkt wie etwa Far Cry, Assassin's Creed, Hitman und so weiter. In der Industrie weiß man Erfahrung auch aus kleineren Studios sehr zu schätzen, und es ist definitiv etwas, das sich im Lebenslauf positiv auswirkt.

Für Österreich spricht jedenfalls die hohe Lebensqualität und das angestellten- und durchaus auch familienfreundliche Arbeitsrecht. Das ist auch viel wert, und ich kenne Leute, die nach Karrieren bei Rockstar, Rare et cetera am Ende dann mit oder wegen der Familie nach Österreich zurückkehren und familienfreundlichere Jobs haben.

STANDARD: Was braucht es, damit Österreich in der Spieleentwicklung wieder eine wichtige Rolle einnimmt?

Chiu: Ich glaube, dass es für kleinere und mittlere Betriebe in Österreich – unter die Spielestudios meistens fallen – viele bürokratische und steuerliche Hürden gibt. Sobald man eine Handvoll Mitarbeiter hat, wird der Erfolgsdruck höher, man kann es sich dann kaum leisten, dass ein Projekt schiefgeht – etwa wenn ein Publisher mitten im Projekt abspringt. Das Studio steht dann mit einem Team da, das plötzlich kein Projekt mehr hat, aber dessen Gehälter natürlich weiterhin zu zahlen sind. Wenn finanziell viel auf dem Spiel steht, sinkt auch die Risikobereitschaft, und das hemmt dann unter anderem die Kreativität.

Daher denke ich, dass es gut wäre, wenn KMUs mehr Unterstützung von der Politik bekämen. Idealerweise ohne dass man das Arbeitsrecht beschneidet. Kreatives Potenzial und Talent ist jedenfalls vorhanden, und es wäre schön, wenn das auch in erfolgreiche Spiele und Studios mündet. Es ist nicht einfach, wenn man eine besonders schräge Idee hat und finanzielle Mittel für diese einbringen will. Investoren legen ihr Geld oft eher konservativ an. Hier könnte man eventuell mit Förderungen nachhelfen. Manche gibt es bereits, zumindest in Wien – ein positives Beispiel ist hier etwa Broken Rules.

STANDARD: In Taiwan boomt E-Sports schon seit Jahren – gibt es dort ein größeres Verständnis für den virtuellen Sport und, wenn ja, wieso?

Chiu: In Taiwan spielt fast jeder – von alt bis jung – irgendwas, und sei es nur am Handy. Taiwan ist auch ein sehr technikaffines Land. Ich glaube, das sind zwei Faktoren, die für die generelle Akzeptanz von E-Sports schon mal gut sind.

Weiters hat Streaming schon vor Jahren richtig abgehoben und damit auch eine Verankerung von kompetitiver Spielekultur im Bewusstsein. Twitch wurde etwa von einem Taiwanesen namens Kevin Lin mitgegründet. Ein paar Erfolge im internationalen beziehungsweise asiatischen E-Sports-Zirkus haben dann den Rest beigetragen. Es gibt mittlerweile, soweit ich weiß, sogar "E-Sports-Nachhilfeschulen".

SIGONO

STANDARD: Zuletzt noch eine private Frage: Wie ist es, als Österreicher in Taiwan zu leben? Inwiefern unterscheiden sich die Taiwanesen von Österreichern?

Chiu: Obwohl ich taiwanesische Wurzeln habe, hatte ich trotzdem einen Kulturschock. Aber mit der Zeit erkennt man, dass Menschen in verschiedenen Kulturen oft im Kern gar nicht so anders sind, und dann erkennt man auch bei Taiwanesen "österreichische" Wesenszüge – so was Ähnliches wie "Wiener Gemütlichkeit" etwa. Den größten gesellschaftlichen Unterschied sehe ich im Umgang mit Älteren vor allem in der eigenen Familie, das ist ziemlich konfuzianisch geprägt. Für einen Europäer wirkt das oft etwas autoritär – Älteren ist ohne Widerrede zuzuhören, selbst bei rassistischen oder sexistischen Meldungen. Für jemanden, der in Europa aufgewachsen ist, ist das etwas befremdlich.

Aber es ändert sich auch langsam – die jüngere Generation lässt sich jedenfalls nicht unterkriegen und ist gesellschaftlich schon viel moderner. Zum Beispiel ist erst vor ein paar Wochen die Ehe für alle eingeführt worden, als erstes Land in Asien. Von Offenheit und Gesellschaft her ist die jüngere Generation jedenfalls näher bei Europa als beim Rest des doch sehr konservativen Asien, das merke ich auch im täglichen Umgang mit meinen Kollegen bei Sigono, die zwischen 21 und 38 Jahre alt sind.

Kulinarisch gibt es ja im STANDARD einige Artikel zu Taiwan, da muss ich nicht viel dazu sagen. Und für Schnitzel oder Käsespätzle einmal im Monat gibt es in Taipeh auch den Österreicher-Stammtisch der Austrian-Taipei Society. Damit lässt sich das Heimweh einigermaßen kontrollieren. (Daniel Koller, 16.7.2019)