Im Wiener "Grauen Haus" beschäftigt Richter Daniel Potmesil sich mit eine Stalkingfall.

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Wien – Frau S. ist 78 Jahre alt, pensionierte Medizinerin – und sitzt vor Richter Daniel Potmesil, da sie eine Stalkerin sein soll. Das behauptet zumindest eine evangelische Pfarrerin, die sich seit zwei Jahren von der Angeklagten belästigt fühlt. Frau S. bestreitet den Vorwurf kategorisch. "Ich bin überhaupt nicht schuldig!", beteuert sie. Im Gegenteil: Die ursprünglich "innige Freundschaft" mit der Geistlichen habe sich derart schlecht entwickelt, dass die Pfarrerin ihr ständig nachlaufe.

Die unbescholtene Angeklagte erzählt, sie habe die Seelsorgerin im Jahr 2011 nach einer Predigt angesprochen, über die Jahre habe es immer wieder Treffen und Ausflüge gegeben. So wie S. es darstellt, sei die Initiative oft von der Pfarrerin ausgegangen: "Sie hat auch einmal in der Nacht angerufen und mich gefragt, ob ich am nächsten Tag mit ihr zum Tierarzt fahre", behauptet die Frau.

"Du bist meine beste Freundin"

Und überhaupt – sie erinnere sich noch genau, dass die Frau ihr einmal gesagt habe: "Du bist meine beste Freundin", und ein andermal: "Ich habe ja sogar von dir gepredigt." Nur einmal, nach einer Silvesterfeier vor einigen Jahren, sei etwas Merkwürdiges passiert. Sie habe die Pfarrerin zur U-Bahn begleitet und sich mit einem Wangenkuss von ihr verabschiedet. Am nächsten Tag sei sie von der Frau angerufen worden, diese habe gefragt: "Wolltest du mich gestern auf den Mund küssen?" Sie habe das verneint, dann sei wieder alles eitel Wonne gewesen.

Ganz mag der Richter das nicht glauben, schließlich sei S. ja aus Gesprächsrunden wie einem Bibelkreis ausgeladen worden. Dann folgt eine wesentliche Frage: "Waren Sie wegen der Sache schon einmal vor einem Gericht?", will Potmesil wissen. "Nein!", antwortet die Angeklagte mit Bestimmtheit. Erst als ihr der Richter vorhält, dass im Februar vor einem Bezirksgericht zwischen ihr und der Pfarrerin ein Vergleich über wechselseitige Kontaktminimierung vereinbart worden sei, fällt es Frau S. wieder ein.

Lediglich zufällige Treffen im Grätzel

Mit der Erinnerung an diese Vereinbarung kommt auch eine andere zurück: "Sie ist mir nachgelaufen!", erklärt die Angeklagte. Mehrmals sei sie danach auf der Straße oder in der Kirche von der Geistlichen fotografiert worden. Aufgelauert habe sie ihr aber nie, es seien zufällige Treffen in Restaurants oder Geschäften nahe der Wohnung der Betroffenen gewesen. "Aber Sie haben diesen Vergleich ja unterschrieben. Wieso machen Sie das überhaupt, wenn Sie angeblich eh nichts Falsches gemacht haben?", wundert sich der Richter.

Die von Elisabeth Bischofreiter vertretene Pfarrerin will nur in Abwesenheit der Angeklagten aussagen und wird von einer Prozessbegleitung in den Saal geführt. Sie schildert, dass sie erstmals im Jahr 2014 nach einer Messe bewussten Kontakt mit Frau S. hatte. Relativ bald danach will sie die Vermutung gehabt haben, dass S. psychische Probleme habe.

Gemeinsame Feiern und Ausflüge

Aus seelsorgerischen Gründen habe sie aber weiter losen Kontakt gehabt. Man habe auch einmal in einer größeren Gruppe Weihnachten gefeiert, insgesamt sei S. drei Mal bei ihr daheim gewesen. Auch den gemeinsamen Tierarztbesuch bestätigt die Zeugin. Sie habe die Hoffnung gehabt, dass S. dadurch beschäftigt sei.

Wirklich unangenehm sei es mit der Katholikin erstmals 2017 geworden. Nach einem Gruppenausflug habe die Angeklagte auf der Rückfahrt im Zug sie stundenlang über die Spiegelung im Fenster unverwandt angestarrt, erinnert sie sich. Für den Verteidiger von S. ein gefundenes Fressen: "Sie haben sich von Blicken belästigt gefühlt?", fragt er ungläubig. "Von den Blicken von dieser Frau", stellt die Zeugin klar.

Danach sei es immer schlimmer geworden – zu jeder Tages- und Nachtzeit sei S. im Grätzel der Zeugin unterwegs gewesen, behauptet sie. Angeblich habe die Angeklagte auch begonnen, vor der Kirche zu schimpfen und zu fluchen. Selbst in ihrem Stammrestaurant hätten sie die Kellner darauf aufmerksam gemacht, dass "der Adler", wie Frau S. von ihnen genannt wurde, täglich vorbeikomme, um zu sehen, ob die Zeugin da ist.

Bei Vergleich vor Gericht unvertreten

Vom Spruch aus dem Matthäus-Evangelium, zwei Meilen zu gehen, wenn man zu einer genötigt werde, hielt die Zeugin schließlich nichts mehr. Sie sorgte für den gerichtlichen Vergleich und hoffte auf Ruhe. Nochmals hakt der Verteidiger nach: "In dem Vergleich steht aber, dass sie wech-sel-sei-tig den Kontakt vermeiden. Warum unterschreiben Sie das?" – "Die Zeugin war damals anwaltlich nicht vertreten und hat vielleicht nicht auf jedes Wort geachtet", unterbricht der Richter.

Der Verteidiger lässt nicht locker und will wissen, warum die Zeugin mehrere Fotos seiner Mandantin im öffentlichen Raum angefertigt hat. Das sei ihr von der Polizei so geraten worden, um Beweise zu bekommen, kontert die Geistliche. Sie muss aber zugeben, dass sie sich der Angeklagten teilweise nähern musste, um die Bilder mit ihrem Handy zu schießen.

Der Richter hält die Zeugin schlussendlich für glaubwürdig. Er verurteilt S. nicht rechtskräftig zu drei Monaten bedingt, erteilt ihr die Weisung, den Kontakt zu der Zeugin zu vermeiden, und ordnet Bewährungshilfe an. "Es müsste ein diabolischer Plan sein", wenn die Angeklagte zu Unrecht belastet werde, da die Schilderungen der unter Wahrheitspflicht stehenden Zeugin durchwegs glaubwürdig seien, begründet er seine Entscheidung. (Michael Möseneder, 15.7.2019)