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Vor zwei Jahren hat es die Grünen erwischt: Sie scheiterten hauchdünn an der Vierprozenthürde und flogen damit aus dem Nationalrat. Diesmal muss hingegen die Liste Jetzt um den Einzug zittern, sie liegt in allen Umfragen deutlich unter den magischen vier Prozent, die über Sein und Nichtsein im Parlament gebieten. In der öffentlichen Debatte wird die Sperrklausel als naturgegebene Barriere wahrgenommen. Große Diskussionen darüber finden nicht statt. Aus Sicht der etablierten Parteien ist das verständlich, liegt eine Schwächung der Konkurrenz doch in ihrem ureigensten Interesse. Vergessen wird dabei, dass es sich bei der Vierprozenthürde um eine politische Festsetzung handelt, über die man mit guten Gründen streiten kann.

Soll man auf bestmöglicher Repräsentation beharren, wenn darunter die Regierbarkeit leidet? Ist taktisches Wählen erwünscht, um eine Parteienzersplitterung zu verhindern, oder doch schlecht, weil es die politischen Präferenzen verzerrt? DER STANDARD hat Argumente gesammelt.


Für

Das geläufigste Argument für die Vierprozenthürde beruht auf der Sorge vor einer Parteienzersplitterung, die sich ohne (oder mit geringerer) Sperrklausel einstellen würde. So begründete man jedenfalls die Einführung der Vierprozenthürde durch die Wahlrechtsreform 1992 in Österreich. In den Gesetzeserläuterungen wird ausgeführt, dass es sich um eine zulässige Maßnahme gegen eine Zersplitterung im Nationalrat handle.

Man stelle sich nur vor, dass schon ein halbes Prozent der Stimmen für einen Einzug in den Nationalrat ausreichend wäre. Dann hätten nach dem letzten bundesweiten Urnengang 2017 neben den aktuell vertretenen Listen auch noch die Grünen, die Liste Gilt und die KPÖ den Sprung ins Parlament geschafft. Insgesamt hätten wir damit acht Parteien, die mit Mandaten ausgestattet wären. Und das sind nur die kurzfristigen Effekte.

Schwierige Regierungsbildung

Langfristig lässt sich annehmen, dass es ohne Sperrklausel zu einer veritablen Fragmentierung des politischen Systems käme. Ein Blick in die Niederlande, in denen es gar keine explizite Sperrklausel gibt, zeigt, wohin die Reise gehen könnte. In der Zweiten Kammer sitzen dort momentan sage und schreibe dreizehn Parteien – und das bei nur 150 Plätzen. Die Regierung selbst amtiert als Viererkoalition, die Opposition ist in neun Fraktionen zerstreut. In Österreich wäre das schwer vorstellbar, hierzulande gilt ja schon eine Dreierkoalition als gewagtes Experiment.

Die Regierungsbildung würde sich in einem solchen Szenario als Mammutaufgabe erweisen. Koalitionen mit heterogenen ideologischen Partnern tun sich nämlich schwer, die Interessen aller Beteiligten unter einen Hut zu bringen. Sie sind stärker gefährdet, sich im Laufe der Zeit zu zerstreiten und damit ein vorzeitiges Regierungsende herbeizuführen. Die Vierprozenthürde trägt also zur Stabilisierung und Langlebigkeit von Regierungen bei.

Mangelnde Ressourcen

Außerdem müssen sich Gegner der Sperrklausel die Frage gefallen lassen, ob Kleinstparteien nach einem Einzug in den Nationalrat dort überhaupt sinnvolle Arbeit leisten könnten – ganz abgesehen davon, dass momentan fünf Abgeordnete notwendig sind, um einen Klub gründen zu können. Schon jetzt tun sich kleine Fraktionen schwer, alle relevanten Themen abzudecken, Bereichssprecher zu nominieren und die Ausschüsse zu beschicken, in denen sich der eigentliche parlamentarische Alltag abspielt. Minigrüppchen aus zwei oder drei Abgeordneten hätten schlichtweg nicht die personellen und intellektuellen Ressourcen, um diesen Aufwand zu stemmen. Insofern wirkt die Vier-Prozent-Hürde als Gewährleistung einer kritischen Mindestgröße, die für parlamentarische Arbeit erforderlich ist.

Und gar so schwierig ist der erstmalige Sprung über die Hürde dann auch wieder nicht. Die Liste Pilz schaffte es 2017 mit wenig Vorbereitung auf Anhieb in den Nationalrat. 2013 waren mit den Neos und dem Team Stronach sogar zwei Newcomer erfolgreich.

Wider

Bei der letzten Nationalratswahl 2017 gingen mehr als 300.000 Wähler – also sechs Prozent aller Wähler – leer aus. Sie sind am Sonntag ins Wahllokal spaziert, haben ihre politische Meinung kundgetan und mit einem gültigen Stimmzettel zur demokratischen Willensbildung beigetragen. Trotzdem waren ihre Stimmen wertlos, sie blieben unter der Sperrklausel hängen und wurden bei der Mandatszuteilung nicht berücksichtigt. Das bedeutet "eine Ungleichheit des Wahlrechts, da die abgegebenen Stimmen nicht denselben Erfolgswert haben", wie die Staatsrechtlerin Teresa Radatz jüngst in einem Aufsatz kritisierte.

Präferenzen ignoriert

Wer die Idee demokratischer Repräsentation ernst nimmt, kann das nicht schulterzuckend hinnehmen. Das Verhältniswahlrecht – darin dem Mehrheitswahlrecht an demokratischer Substanz überlegen – beruht auf dem Prinzip, dass sich die politischen Präferenzen der Wähler bestmöglich in den Gewählten widerspiegeln sollen. Alle sollen den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung ihrer Vertretung haben und sich in ihr wiederfinden können. Dieses Prinzip wird durch die Vierprozenthürde eingeschränkt: Ein System, das eine Wählerschaft in der Größenordnung des Bundeslandes Salzburg (2017: 315.783 gültige Stimmen) im Endeffekt ignoriert, ist vom Repräsentationsideal weit entfernt.

Verzerrte Repräsentation durch taktisches Wählen

Andere Wähler werden zwar repräsentiert, allerdings nur in verzerrter Form. Die Sperrklausel lädt nämlich ganz besonders zu "taktischem Wählen" ein. Rechnet man von vornherein damit, dass die eigene Lieblingspartei kaum Chancen auf die Überwindung der Hürde hat, wird man sich genau überlegen, ob man seine Stimme "verschwenden" will.

Stattdessen besteht ja noch die taktische Möglichkeit, die zweit- oder drittliebste Partei anzukreuzen, wenn diese gute Chancen auf Mandate hat. Die Sperrklausel wirkt also nicht nur nach geschlagener Wahl, sondern auch schon davor, indem sie das Wahlverhalten zugunsten etablierter Fraktionen umlenkt und damit die politischen Präferenzen verfälscht abbildet. Auch dieser Mechanismus unterläuft das Ideal demokratischer Repräsentation.

Unfairer Wettbewerb

Wobei es den großen Parteien wohl weniger um Ideale als um die Abschirmung von Mandatskonkurrenz geht. Um es in Ökonomensprache zu formulieren: Die Vierprozenthürde stellt eine künstliche Markteintrittsbarriere dar, die der Kartellierung des Wählermarkts dient. Verstärkt wird diese Barriere durch üppige öffentliche Subventionen, die sich die etablierten Parlamentsparteien selbst gönnen. Der Großteil der Fördermittel ist an die Mandatszahl geknüpft und damit indirekt an die Sperrklausel gekoppelt.

Sitzt eine Partei erst einmal im Nationalrat, erhält sie Jahr für Jahr Millionenbeträge an Parteien-, Klub- und Akademieförderung. Dazu kommt noch die knappe Ressource medialer Aufmerksamkeit. Eine Senkung der Sperrklausel könnte diesen Wettbewerbsvorteil der Parlamentsparteien zwar nicht aufheben, aber doch gehörig mindern. (Theo Anders, 16.7. 2019)