Der Belgier Wout Van Aert hielt sich als Etappensieger an die Etikette. Zurückhaltung beim Küssen ist geboten – und erwünscht.

Foto: APA/AFP/MARCO BERTORELLO

Tradition ist Teil des Kapitals der Tour de France, die dieser Tage zum 106. Mal ausgefahren wird. Für einfach überlebt hält nicht nur der grüne Abgeordnete Francois-Michel Lambert aber zum Beispiel die Tour-Tradition, dass die dem Feld vorauseilende Werbekarawane während der 21 Etappen 15 Millionen Stück diverser Werbeartikel aufs Publikum regnen lässt und also auch tonnenweise Müll verteilt.

Zur Besatzung des 160 Fahrzeuge umfassenden Trosses gehören auch die Tourhostessen, junge Frauen, die vor allem dann auch weltweit sichtbar sind, wenn sie am Ende jeder Etappe dem Sieger und den jeweiligen Trikotträgern, nun ja, zur Seite stehen.

Petition gegen den Einsatz von Hostessen

Seit Jahren erntet der Tourveranstalter, die Amaury Sport Organisation (ASO), Kritik für den Einsatz der landesweit gecasteten Frauen, die den Profis in die engen Trikots helfen, Blumen und Stofflöwen des Hauptsponsors Credit Lyonnais überreichen und Küsschen geben. Die Frauen würden als Dekorationsobjekte missbraucht, heißt es. Eine Gruppe deutscher Aktivistinnen und Aktivisten unterstellt gar, sie würden als Siegespreis vorgeführt. Eine Petition gegen den Einsatz von Hostessen erhielt bisher an die 20.000 Unterschriften.

Respektlosigkeit gegenüber den Hostessen befeuerte die Diskussionen. Nach der Flandern-Rundfahrt 2013 fasste der Slowake Peter Sagan einer der Frauen ans Gesäß, entschuldigte sich aber umgehend. Es sei nicht seine Absicht gewesen, sich respektlos gegenüber Frauen zu verhalten. "Es war bloß ein Scherz."

Vor der Tour 2017 schwadronierte der belgische Profi Jan Bakelants in einem Zeitungsinterview von der Notwendigkeit, Kondome nach Frankreich mitzunehmen, da man nie wissen könne, "wo sich diese Hostessen herumtreiben". Wieder bei Sinnen twitterte Bakelants, dass seine Worte unangebracht gewesen seien.

Tolle Figuren

Immer mehr Rennveranstalter verzichten auf Hostessen bei der Siegerehrung. Die Tour Down Under in Australien schritt voran, die Vuelta a España folgte als erste der drei größten Landesrundfahrten. Im Feld der Profis sind die Meinungen geteilt. "Das ist eine alte Tradition. Es ist, als behandelst du Frauen wie eine Sache und schätzt sie nicht richtig", sagte der Spanier Mikel Landa der Zeitung El Correo. "Man muss doch zugeben, die Podiumsgirls sind nur da, weil sie hübsch sind und eine tolle Figur haben."

Franz Steinberger, der Direktor der Österreich-Radrundfahrt, widerspricht nicht. "Es schaut schön aus, das Bild wird aufgelockert. Die Mädchen machen das auch gerne." Steinberger will nicht auf das "Gejohle" der Kritik hören, "da bin ich gerne nicht trendig". Die Hostessen kämen zudem ja nicht nur auf dem Podium zum Einsatz. Tatsächlich seien sie im wahrsten Sinne des Wortes während der Rundfahrt Werbeträgerinnen.

Für die Tour de France, der Leitveranstaltung der Szene, war schon ab 2018 der Verzicht auf Podiumshostessen in Aussicht gestellt worden. Der von der ASO gefasste Entschluss wurde allerdings nicht umgesetzt. "Bei den Frauenrennen der ASO geben ja die Männer den siegreichen Frauen ein Küsschen", sagte Tourdirektor Christian Prudhomme und setzte sich im halbwitzigen Versuch, die Diskussion zu entschärfen, gleich zusätzlich in die Nesseln.

Tour de France für Frauen eingestellt

Tatsächlich siecht nämlich der Radrennsport der Frauen nicht zuletzt aufgrund des Desinteresses der einflussreichsten Veranstaltung der Szene dahin. Seit 2009 wird keine Grande Boucle Féminine, also Tour de France für Frauen, mehr ausgefahren. Die ASO nahm die Namensrechte, Prudhomme begründete den Abschied der ASO mit der Unmöglichkeit, Frankreichs Straßen zweimal pro Jahr für eine Sportveranstaltung in Beschlag zu nehmen. Ab 2005 wurde nur noch ein Rumpfrennen über nur vier bis sieben Etappen ausgefahren, 2008 siegte übrigens die Österreicherin Christiane Söder. Seit 2014 veranstaltet die ASO die sogenannte La Course by Le Tour de France, ein Eintagesrennen vor einer der Etappen des Männerrennens. Veranstalter von Frauenrennen klagen aber generell über Desinteresse der Sponsoren und schrumpfende Felder.

Das größte und schwerste Etappenrennen für Frauen ist der Giro d'Italia Femminile, der seit 1988 stets einige Wochen nach dem Giro der Männer ausgetragen wird. In Italien wird Gleichberechtigung ernst genommen – Podiumshostessen gibt es auch für die Siegerinnen. (Sigi Lützow, 17.7.2019)