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Ursula von der Leyen wird neue Kommissionspräsidentin.

Foto: Reuters/FABRIZIO BENSCH

Ursula von der Leyen hat es also doch noch geschafft. Man könnte nach ihrer emotionalen Bewerbungsrede im Plenum des Europäischen Parlaments sogar sagen, sie hat es am Ende allen gezeigt. Knapp. Sogar "arschknapp", wie Bundespräsident Alexander Van der Bellen seinen Wahlsieg über den FPÖ-Gegenkandidaten Norbert Hofer 2016 eingestuft hat. Aber das Kämpfen um jede Stimme hat sich gelohnt: Sie hat gewonnen, kann am Projekt Europa weiterbauen.

Das ist direkter Ausdruck dessen, in welch schwachem Zustand Europa politisch ist. Die sprichwörtlichen Proeuropäer sind nicht mehr selbstverständlich in der großen Überzahl, wie manche meinen, auch wenn sehr viel auf dem Spiel steht. Ein paar Stimmen auf oder ab, und die Gemeinschaft könnte rasch noch tiefer in ihre anhaltende Identitätskrise stürzen. Mit einer kopflosen Kommission.

Die "ZiB" kommentiert die Wahl.
ORF

Denn wie seit Jahrzehnten nicht war diese Wahl der ersten Präsidentin der EU-Kommission in der Geschichte der Union von Missstimmung, Kritik, Hinterzimmerdeals der Staats- und Regierungschefs gekennzeichnet – und von unehrlichen Manövern. Es begann damit, dass Europas Wählern zuerst vorgemacht wurde, sie könnten mit ihrem Votum bei den Europawahlen im Mai indirekt Einfluss nehmen darauf, wer die EU-Zentralbehörde leiten würde.

Nominierung mit Fouls

Das von den Parlamentsfraktionen und ihren Parteifamilien eingeführte provisorische Modell der Spitzenkandidaten wurde aber nach der Wahl von einigen Regierungen unschön beiseite geräumt. Die Wahlbürger durften sich geblufft vorkommen, ehe schließlich bei einem turbulenten Drei-Tages-EU-Gipfelkrieg die Verteidigungsministerin aus Deutschland im Rahmen eines EU-Personalpakets gekürt wurde.

Praktisch beim gesamten Nominierungsprozess gab es Fouls von beteiligten Chefverhandlern und Parteien. Und wenig Willen zur Einigung, zum gemeinsamen Vorgehen, um die großen Herausforderungen unserer Zeit zu attackieren – vom Klimawandel über die Migration bis zum Umbruch durch Digitalisierung des Lebens. Auch die Fraktionen im Parlament waren nicht in der Lage, einen tragfähigen Kompromiss und einen Pakt für einen Spitzenkandidaten zu zimmern. In der EU der Nationalstaaten geht es nach wie vor ruppig zu, zumal wenn es tiefe Spaltungen zwischen West- und Osteuropäern in wesentlichen politischen Fragen wie Migration oder Rechtsstaatlichkeit gibt.

Aber dafür konnte und kann von der Leyen nichts. Sie war eine Ersatzkandidatin. Trotzdem wurde sie seit zwei Wochen massiv in Zweifel gezogen. Eine Mehrheit für sie im Parlament schien kaum erreichbar, weil ein Parteienpakt als Grundlage fehlte, wie das etwa 2014 bei ihrem Vorgänger Jean-Claude Juncker durch zwei Parteien – Christdemokraten und Sozialdemokraten – noch gegeben war.

Ursula von der Leyen im Videoporträt
DER STANDARD

Umfassende Zerrissenheit

Das Ergebnis bei der Wahl der Kommissionschefin drückt diese umfassende Zerrissenheit aus. Der Riss geht inzwischen auch quer durch traditionelle Parteien wie die Sozialdemokraten: Ein Drittel von ihnen lehnte von der Leyen hart ab, der Rest wählte sie.

Sie übersprang mit 383 Stimmen die für eine Bestätigung nötige Hürde um nur neun Stimmen. Das wird nicht reichen, um in den nächsten Jahren tragfähige Mehrheiten im Parlament zu bilden, wenn es um große Reformen geht, um die vielen Versprechungen, die sie gemacht hat. Als Erstes wird die Kommission ein Hauptprojekt angehen müssen: die Spaltungen überwinden, neues Vertrauen aufbauen. (Thomas Mayer, 17.7.2019)