Vermummte algerische Fans nach dem Finaleinzug der Wüstenfüchse auf den Champs-Élysées – Fortsetzung am Freitag.

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Riyad Mahrez schießt Tore und twittert Fußtritte.

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Ich wusste gar nicht, dass in meiner Nachbarschaft so viele Algerier leben", sagte am vergangenen Montag voller Verwunderung ein Bewohner der Pariser Vorstadt Bourg-la-Reine. In der Nacht zuvor hatte ihn ein Hupkonzert um Mitternacht wach gehalten. Den Grund erfuhr er erst am nächsten Tag, als er sich die Nachrichten anschaute: Algerien hatte gegen Nigeria den Einzug ins Finalspiel des Afrika-Cups, der kontinentalen Fußballmeisterschaft, fixiert.

Auf den Champs-Élysées war nach dem Halbfinaleinzug Algeriens der Bär los.
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Auf den Champs-Élysées in Paris versammelten sich im Nu Zehntausende. Es begann mit einem Hupkonzert und endete mit der Verhaftung von 280 Fans. In einzelnen Vorstädten von Lyon feierten andere mit Wheelie-Rodeos, bei dem nur das Hinterrad des Motorrades den Boden berührt, bis die Polizei eingriff. In Marseille wiederum, der Hafenstadt am Mittelmeer, wo besonders viele Immigranten aus dem gegenüberliegenden Maghreb leben, hatte die Polizei vorsorglich das Gebiet um den alten Hafen gesperrt. Die Fanmassen wichen aber spontan auf die Hauptschlagader der Canebière aus und zerstörten ein Bushäuschen nach dem anderen. Autos gingen in Flammen auf.

Explosive Spannungen

All das fand wohlgemerkt nicht in Algerien statt, sondern in Frankreich, einem Land, das bei diesem Turnier gar nicht mitmacht. Dass sich dieses Rambazamba in französischen Städten – zumal mit großen Banlieue-Zonen – abspielte, ist keineswegs ein Zufall. In das algerische Temperament, das sich in einer Explosion der Freude Bahn brach, mischen sich auch die nicht minder explosiven franko-algerischen Spannungen.

Sie gehen zurück bis auf den algerischen Unabhängigkeitskrieg zwischen 1954 und 1962 gegen die französischen Kolonialherren. Dieser überaus blutige Konflikt wartet bis heute auf eine Aussöhnung. Dazu kommt ein Immigrantenstatus, der im Alltag dazu führt, dass außerhalb der Einwandererghettos kaum Arbeit oder eine Wohnung zu finden sind, wenn man Mohammed oder Khaled heißt und, schlimmer noch, sich als Algerier outet.

Zum Ausbruch kommt der angestaute Frust in Frankreich regelmäßig bei Banlieue-Krawallen – aber auch in Fußballstadien. 2001 etwa beim Freundschaftsspiel zwischen Frankreich und Algerien. Von den 78.000 Zuschauern im Stade de France – das selbst in der tiefen Banlieue von Saint-Denis gelegen ist – buhten Zehntausende die französische Nationalhymne gnadenlos aus. In der 76. Minute wurde die Spannung in den Rängen zu groß; die Menge enterte das Spielfeld, die Partie musste abgebrochen werden.

Am Tag danach schrieben Pariser Medien, das sei doch "kein Fußballmatch" gewesen. Aber was dann? Kaum jemand legte den Finger auf den wunden Punkt. Die meisten Fans, die die Marseillaise ausgepfiffen hatten, sind selbst Franzosen. Franzosen algerischer Herkunft zwar, aber in Frankreich geboren und damit Inhaber des französischen Passes.

Die übrigen Franzosen verstanden die Welt nicht mehr. Einige verstehen sie bis heute nicht. Vor dem Halbfinale zwischen Algerien und Nigeria erklärte Julien Odoul, ein Abgeordneter der rechtspopulistischen "Nationalen Sammlungsbewegung" (RN) von Marine Le Pen, er wünsche den Sieg Nigerias, damit es in Frankreich keine neuen Straßenexzesse gebe. Aber die Algerischstämmigen hörten noch etwas anderes heraus – etwas Antialgerisches. Zumal andere RN-Vertreter im Trump-Stil getwittert hatten, wer in Frankreich Randale mache, solle doch in sein Herkunftsland zurückkehren.

Tweet als Fußtritt

Darauf twitterte der algerische Spieler Riyad Mahrez, als er sein Team gegen die Nigerianer zum Sieg geschossen hatte, an die Adresse Odouls: "Dieser Freistoß war für dich." Das klang fast schon nach einem Fußtritt.

Mahrez verkörpert selbst die komplizierte Beziehung zwischen Frankreich und Algerien. In der berüchtigten Pariser Banlieue-Stadt Sarcelles geboren, verfügt der heutige Offensivstar von Manchester City, der an der Seite des Österreichers Christian Fuchs Meister mit Leicester City war, sowohl über den französischen Pass (durch seinen Geburtsort) wie auch den algerischen (durch seine Eltern). Das gilt für sieben der elf Startspieler gegen Nigeria.

Auch Mahrez hatte sich, wie viele seiner Schicksalsgenossen, als Jungprofi entscheiden müssen, für welches Land er spielen wollte. Und der Doppelpassträger handelte anders als viele, die es – wie einst Ikone Zinédine Zidane – zu den französischen "Bleus" zieht oder die sich dort bessere Karrierechancen ausrechnen. Mahrez traf seine Wahl nicht nach Kalkül, sondern Gefühl – und spielt heute bei den algerischen "Fennecs", den Wüstenfüchsen.

Für wen das Herz schlägt

So wie der mittlerweile 28-jährige Kapitän der Mannschaft von Trainer Djamel Belmadi fühlen wohl die meisten Algerier, die in Frankreich wohnen und Franzosen sind, aber nicht zweimal überlegen müssen, für wen ihr Fußballherz schlägt – natürlich für Algerien. Für Frankreich bestenfalls an zweiter Stelle.

Am Freitag spielen die Algerier vor 74.000 Zusehern im Cairo International Stadium zwar gegen die Senegalesen um den erst zweiten Titel nach jenem von 1990, als die Mannschaft um Superstar Rabah Madjer daheim in Algier triumphierte – in den Köpfen wollen sie es aber vor allem Frankreich zeigen. In Paris, Lyon und Marseille ist die Polizei jedenfalls in höchster Alarmbereitschaft. Allein auf den Champs-Élysées in Paris werden 2500 Ordnungshüter im Einsatz sein. (Stefan Brändle aus Paris, 19.7.2019)