Die Beamtenübergangsregierung findet so breite Zustimmung, dass Experten warnen, man solle sich nicht an diese Art der Regierung gewöhnen. Das Misstrauensvotum, das zu dieser Regierung geführt hat, erhält hingegen verheerende Kritiken. Selbst seine Proponenten rechtfertigen sich. Es ist daher zweifelhaft, ob ein Misstrauensvotum nochmals eine reale Option in der österreichischen Politik sein wird. Verfassungspolitisch unterminiert dieser Befund aber einen Eckpfeiler der parlamentarischen Demokratie.

Bereits die Begründungen im Parlament verrieten, dass der staatsrechtliche Sinn hinter dem Rechtsinstitut Misstrauensvotum ignoriert wird, ergingen sich doch die Redner in Philippiken über Verfehlungen und Vertrauensunwürdigkeit von Regierung und Kanzler. Das Vertrauen zu versagen sei gerechtfertigt, ja geradezu geboten. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive waren diese Begründungen Larifari. Das Misstrauensvotum nach Artikel 74, Absatz 1 des Bundesverfassungsgesetzes ist keine Sanktion für Fehlverhalten, nicht an inhaltliche Voraussetzungen gebunden und unterliegt keinen Einschränkungen. Sein Sinn ist glasklar: Die Regierung soll vom politischen Willen der Mehrheit des Parlaments abhängig sein.

Mehrheitsbeschaffender "Deal"

Es geht um die politische Kontrolle der Regierung durch die Parlamentsmehrheit. Üblicherweise führt das Institut des Misstrauensvotums nämlich zu einer Regierung, die durch die Parlamentsmehrheit gestellt wird. Kann sich diese – wie derzeit – nicht auf eine erforderliche Koalition einigen, kontrolliert sie durch Duldung einer bestimmten Regierungskonstellation.

Diese geduldete Regierung wird nur dann eine von einer Partei gestellte Regierung sein, wenn dem ein mehrheitsbeschaffender "Deal" zugrunde liegt (zum Beispiel die Regierung Kreisky 1970 oder informelle Koalitionen in Skandinavien). Im seltenen Fall ohne "Deal" wird – wie derzeit – nur eine von der Mehrheit des Parlaments als neutral bewertete Regierung geduldet werden, würde es doch demokratiepolitisch und für die Parteien der Parlamentsmehrheit keinen Sinn ergeben, wenn ein Konkurrent ohne Mandatsmehrheit "gratis" jene Vorteile erlangt, die mit der Regierung verbunden und der Mehrheit zugedacht sind.

Irrationale Annahme

Der sachliche Hintergrund eines Misstrauensvotums ist verfassungsrechtlich also nicht Vertrauensunwürdigkeit, sondern politische Diskrepanz zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit. "Das Vertrauensverhältnis zwischen Regierung und Parlament ist durch Abweichungen in den jeweiligen politischen Konzepten gestört" (© Großkommentar Bundes-Verfassungsgesetz). Ob diese Diskrepanz auf behauptete Verfehlungen oder unterschiedliche Bewertungen zurückgeht, ist irrelevant. Die verfassungsrechtlich sinnvolle und ausreichende Begründung eines Misstrauensvotums lautet demnach: "Wir lehnen Ihre Politik ab, und Sie haben keine Parlamentsmehrheit, also müssen Sie gehen!"

Nicht das Misstrauensvotum war irrational. Aus verfassungsrechtlicher Sicht objektiv irrational war die Annahme, die Minderheitsregierung könne ohne mehrheitsbeschaffende Deal bis nach den Wahlen im Amt verbleiben.

Missverstandener Parlamentarismus

Der öffentlichen Diskussion lag freilich ein anderes Verständnis zugrunde, dessen Kritik am Misstrauensvotum die Institutionen der Verfassung ignoriert: Dem erfolgreichen Misstrauensvotum undemokratischen Missbrauch vorzuwerfen, missversteht Parlamentarismus. Nicht Meinungsumfragen, sondern die Mehrheit der Volksvertreter ist für demokratische Legitimation entscheidend. Und diese Mehrheit hat getan, was dem Systemkonzept entspricht: die Abberufung einer Regierung ohne Unterstützung der Parlamentsmehrheit durchzusetzen und den Bundespräsidenten zur Bestellung einer von der Parlamentsmehrheit geduldeten Regierung zu veranlassen.

Staatspolitisch verantwortungslose Instabilität? Unfug! Der Staatsapparat läuft ohnehin weiter, solange das Budget ausreicht. Die Kompetenz des Bundespräsidenten nach Artikel 71 B-VG, eine sogenannte "einstweilige" Bundesregierung "mit der Fortführung der Verwaltung zu betrauen", verhindert jedes staatsrechtliche Interregnum. Deswegen gab es die einwöchige Regierung Löger. Dieser Regierung folgte dann die als neutral und stabilitätsfördernd anerkannte Übergangsregierung Bierlein nach.

Erzwungener Stillstand, weil das Misstrauensvotum zu einer bloßen "Caretaker"-Regierung führt? Ja, eine Regierung, die von der Parlamentsmehrheit bloß geduldet wird, aber keine fixe Unterstützung durch eigene Parlamentsmehrheit besitzt, hat politisch wenig Handlungsspielraum. Aber eine Minderheitsregierung Kurz hätte ja auch keine "automatische" Mehrheit hinter sich gehabt. Der – ohnehin durch freie Mehrheitsbildung im Parlament relativierte – Stillstand ist also die Folge des Zerfalls der Koalition und nicht des Misstrauensvotums.

Internationaler Handlungsspielraum

Geringeres Gewicht der als Folge des Misstrauensvotums eingesetzten Beamtenregierung in Europa, im Ausland? Rechtlich schlicht falsch. Politisch maße ich mir kein Urteil an, ob zum Beispiel ein europäischer Politiker, der vorher Uniprofessor war (Sanchez), für Kurz mehr Respekt gehabt hätte als für eine ehemalige österreichische Höchstgerichtspräsidentin. Objektive Beweise für diese Spekulationen fehlen.

Objektiv kann eine Regierung, die nicht weiß, ob sie Vorhaben umsetzen kann und nur über begrenzte Lebensdauer verfügt, im Verhandlungs- und Bündnispoker anderen Regierungen weniger Kooperationsmöglichkeiten anbieten. Aber dies hätte für eine Minderheitsregierung Kurz ebenso gegolten. Zumal diese nach den Wahlen bei der Regierungsbildung vermutlich keine "gmahte Wiesn" finden wird.

Letztlich grotesk der Vorwurf, das Misstrauensvotum habe zu einer demokratisch nicht legitimierten, nicht gewählten Regierung geführt: Die Türkisen haben zwar 2017 an Wahlen teilgenommen, aber diese haben sie gerade nicht zur Alleinregierung legitimiert. Hingegen erfolgten die "Abwahl" der Minderheitsregierung als auch die Duldung der Beamtenregierung durch die Parlamentsmehrheit.

Vorparlamentarische Mentalität

Fazit: Selbst wenn manches bloß Ausfluss von Propaganda ist, drängt sich doch eine Feststellung auf: Bevölkerung und politische Akteure verbinden in sachrational nicht begründbarer Weise mit dem Misstrauensvotum Nachteile, die es nicht gibt oder die Folge anderer Ursachen sind.

Zu erklären ist diese instinktiv-irrationale Ablehnung des Misstrauensvotums mit den in Österreich noch vielfach sichtbaren Überresten vorparlamentarischer Untertanenmentalität. Das Misstrauensvotum wird dabei offenbar als unbotmäßiger Akt der Auflehnung gegen die Regierung, die Regierung als per se legitim begriffen, weshalb ihr Sturz allenfalls im äußersten Notfall nicht aber als demokratischer Normalfall statthaft ist.

Beim Ministerrat hat die Regierung den Kaiser im Rücken.
Foto: apa/georg hochmuth

Über diese Untertanenmentalität könnte man vieles sagen, doch sagt ein Bild mehr als tausend Worte! In diesem Fall ist es das Foto der ersten Ministerratssitzung der neuen Bundesregierung. Über dem Tisch im großen Ministerratssaal blickt das Gemälde des jungen Kaisers Franz Joseph auf die Regierung hinab. Dieser junge Franz Joseph implementierte die Politik des Neoabsolutismus. Sein autokratisches Regime unterdrückte demokratisch-liberale Bewegungen blutig und endete durch die militärische Inkompetenz seiner Führungsclique, die 1859 und 1866 zigtausende Soldaten das Leben kostete. Was sagt es über die politische Bildung dieses Landes, wenn die Regierung ihre Sitzungen unter dem Bild einer historischen Figur abhält, die Antithese zur parlamentarischen Demokratie ist?

Regierungstreuer Untertanengeist

Hier schließt sich der Kreis. Ich wage die Behauptung, derselbe Mangel an politischer Bildung, derselbe aus Instinkt regierungstreue Untertanengeist, der den neoabsolutistischen Franz Joseph nicht als Feind der parlamentarischen Demokratie identifiziert, versteht nicht, dass nach unserer Verfassung das Misstrauensvotum die Regierung zum Untertanen der Parlamentsmehrheit machen soll.

Um Manipulation durch politische Propaganda zu verhindern, sollten wir autoritäre Führerfiguren als Feinde der parlamentarischen Demokratie identifizieren. Wir sollten also die Kaiserbilder entfernen, aus den Sitzungssälen und aus den Köpfen! Daher: Weg mit dem Kaiserbild! (Alexander Latzenhofer, 25.7.2019)