Jérôme Bel hat sein Werk künstlerisch als Film recycelt: "Retrospective" enthält Ausschnitte aus seinen Choreografien, hier mit Tänzer Frédéric Seguette.

Foto: Herman Sorgeloos

Er nennt die Dinge notorisch beim Namen. Sein Film, sagt Jérôme Bel zum Beispiel, sei "das Grab" seiner Stücke. Der Franzose gehört zu den radikalsten Akteuren einer Bewegung im zeitgenössischen Tanz, die in den Neunzigern gegen die Mechanismen eines sensationsgierigen Stückemarkts anging. Jetzt hat er bei Impulstanz im Akademietheater seinen jüngsten Coup vorgestellt: einen Film, der eigentlich ein Stück ist, Retrospective heißt und als künstlerisches Recycling vorgestellt wird.

So ironisch das auch klingt, trägt es doch ein ernsthaftes Statement vor. Jérôme Bel boykottiert den umweltfeindlichen Flugverkehr und gehört zu jenen noch seltenen Kunstschaffenden, die wider das Durch-die-Welt-Jetten der globalen Kulturelite eintritt. "Die Distribution eines Films", erläutert der Choreograf im Prolog von Retrospective, "ist wesentlich ökologischer als der Lufttransport von Tänzern und Equipment".

Mit dieser Haltung sticht Bel, der wie Greta Thunberg tatsächlich nur noch mit dem Zug reist, empfindlich in das seit gut 40 Jahren bestens geölte System der Präsentation internationalen Bühnenschaffens. Gerade die günstigen Flugpreise der vergangenen Jahre haben die Vollblüte dieser globalen Distribution erst ermöglicht. Und jetzt? Wenn der Klimawandel in Europa bereits Ernten und Wälder vertrocknen lässt, genügt es nicht mehr, nur Zeichen zu setzen. Es braucht Taten.

Die Signale lesen lernen

Daher muss Jérôme Bel weder Ökofanatiker noch Klimaexperte sein, um sofort Konsequenzen zu ziehen. Noch dazu hat er eine Tochter, die im November 14 wird und in Retrospective auch zu sehen ist: Wie zeigt man seinem Kind, dass man zwar spät, aber dann konsequent dazu beiträgt, die Zukunft seines Lebensraums zu sichern? Bel tut dies, indem er dem globalen Festivalmarkt einen Anstoß gibt, an Veränderungen zu arbeiten – auch wenn das erst einmal wie Selbstbeschädigung aussieht.

Am Beginn seiner künstlerischen Karriere wollte der Künstler sein Publikum dazu bringen, die unsere Gesellschaft dirigierenden Signale genau zu lesen und sich nicht durch trügerischen Budenzauber blenden zu lassen. Der heute 54-Jährige zeigte mit den Mitteln der künstlerischen Choreografie und Performance, dass eine auf dem Verständnis unserer Zeichen-Welt beruhende Emanzipation gegenüber der Allmacht der Märkte möglich ist. Weil das mit einer rigiden Reduktion der üblichen Verführungen im Tanz einherging, war der Ärger groß.

Trotzdem wurde Jérôme Bel zu einer führenden Figur im Tanz – weil seine Arbeiten treffsicher sind und echten Witz haben. In Retrospective deutet er jenen an, die sein Werk nicht kennen, wie das bisher funktioniert hat. Sein Gastspiel bei Impulstanz ergänzte er durch einen weiteren, persönlichen Auftritt: Mit der Lecture on nothing von John Cage deutet er noch einmal auf die Notwendigkeit eines Umdenkens hin. Wir müssen ihn ernst nehmen. (Helmut Ploebst, 23.7.2019)