Aloisia Moser hat bei Ágnes Heller promoviert. Im Gastkommentar erinnert sich die Linzer Assistenzprofessorin an die am Freitag verstorbene Philosophin.

Ich habe Ágnes Heller zum ersten Mal getroffen, als ich bereits Doktorandin am Institut für Philosophie an der New School for Social Research in New York war. Es war 1999 und ich erinnere mich nicht mehr an den ersten Kurs, den ich bei ihr belegt habe. Woran ich mich aber deutlich erinnere, ist der erste Empfang im Institut, bei dem ich neben ihr und dem Institutsvorstand Richard Bernstein stand. In meinen Jahren als Magisterstudentin der Philosophie in Wien und Berlin hatte ich mir angewöhnt, alle Autoritäten herauszufordern und mich entgegenzustellen. Heller machte mir sofort einen Strich durch die Rechnung, indem sie sich Bernstein zuwandte und sagte: "Aloisia ist eine richtige Persönlichkeit." Sie überraschte mich und nahm sich meiner gleichzeitig an.

Damals verstand ich nicht, warum Ágnes mich sofort mochte, dass sie in mir die Personifizierung ihrer Theorie der Persönlichkeit sah. Als Teil ihrer Theorie der Moderne fordert sie uns auf, das Paradoxon zu akzeptieren, dass obwohl wir alle gleich geboren sind, wir dahin streben müssen, uns zu Versionen der Person zu machen, die wir hoffen zu werden. Wir projizieren uns also als die, die wir sein wollen, und handeln nach diesem Modell. In gewissem Sinne ist dies ein kategorischer Imperativ: "Handle so, dass Du die Person wirst, die Du in der Zukunft sein möchtest."

Ágnes Heller 2017 in Wien.
Foto: standard/robert Newald

Schwimmen und leben

Den Sommer vor meinem zweiten Jahr an der New School verbrachte ich damit, Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" zu lesen, da Ágnes ein Seminar dazu angekündigt hatte. Im Jahr darauf belegte ich ihren Kurs zu Hegels "Phänomenologie des Geistes" und bereitete mich danach auf ein Doktoratsexamen darüber vor, indem ich die Phänomenologie auf Deutsch und Englisch gleichzeitig las. Ich verbrachte eine Woche allein an einem Bergsee, las, sprang in den See und schwamm auf die andere Seite und zurück, was das Lesen des Textes perfekt spiegelte.

Schwimmen, das war Ágnes' Art in der Welt zu sein. Ich fragte sie einmal, wie sie das alles schaffte – um die Welt zu fliegen und ihre Vorträge und Seminare zu halten, immer erst im letzten Moment zurückzukehren und vom Flugzeug direkt ins Seminar zu kommen. Kannte sie keinen Jetlag? Ihre Antwort war, dass sie die Zeitverschiebung nie akzeptierte, dass sie dort, wo sie hinflog, auch die Zeit annahm. Das ging, indem sie jeden Tag schwamm, niemals ein Hotel ohne Schwimmbad buchte. Vor einigen Tagen schwamm sie in den Balaton hinaus und kehrte nicht mehr zurück.

Unabhängige Frauen

Jedes Jahr vor Weihnachten richtete ich in meiner jeweiligen New Yorker Untermietswohnung oder WG eine österreichische Weihnachtsfeier aus. Einmal, als ich mir eine Wohnung mit meinem Freund auf der Boerum Street in East Williamsburg teilte, kam Ágnes viel zu früh zur Party, da sie später noch einen russischen Klassiker im Fernsehen anschauen wollte. Ich noch dabei, den Teig für meine berühmten Vanillekipferl vorzubereiten. Also setzte sich Ágnes zu mir und während ich Butter, Staubzucker, geriebene Nüsse und Mehl zusammenknetete, erzählte sie. Wie sie es schaffte, mit zwei Kindern auf Konferenzen zu fahren, wie sie für jeden Tag Mahlzeiten vorbereitete, sie mit Montag, Dienstag, Mittwoch et cetera beschriftete und ins Gefrierfach stellte.

Sie war keine Feministin und hielt sich bei dem Thema immer zurück. Aber einmal hat sie ein Journalist gefragt, warum sie eine der wenigen erfolgreichen Frauen in der Philosophie sei. Ihre Antwort war: "Frauen waren in der Vergangenheit entweder ökonomisch oder emotional abhängig, zumeist beides und deshalb haben sie keine Beiträge zur hohen Kultur geleistet. Seit Frauen unabhängig sind, nämlich finanziell und emotional, haben sie begonnen, große Beiträge zu leisten." Dies gilt für die Literatur, Kunst, Philosophie und viele andere Bereiche. Ágnes hat oft erzählt, dass ihr Vater wollte, dass sie entweder Philosophin oder Komponistin werden sollte – kurzum ein Beruf, der für Frauen unmöglich zu erreichen wäre. Diese Unmöglichkeit, gestehe ich, war wahrscheinlich auch der Grund, warum ich es mir in den Kopf gesetzt habe, Philosophin zu werden und nicht Friseurin oder Verkäuferin, wie das meine Eltern für mich im Sinn hatten.

Freiheit ohne Fundament

Was mir in Hellers Philosophie am meisten auffällt, ist ihre Überzeugung in der Theorie der Moderne, dass die Moderne auf Freiheit begründet ist, was ein Paradoxon ergibt, da Freiheit kein Fundament geben kann. Wenn sie dies könnte, wäre die Freiheit nicht frei. Wir können das Paradoxon nicht auflösen und Heller schlägt vor, dass wir es einfach nicht als Paradoxon denken, obwohl es natürlich immer wieder als eines auftaucht, wenn wir darüber nachdenken.

Für Heller funktionieren Paradoxien so, dass beide Seiten auf derselben Ebene oder in derselben Sphäre, in derselben Geschichte auftauchen, allerdings mit dem Pfeil in verschiedene Richtungen. Was zählt, ist allein, wie wir mit dem Paradoxon umgehen. Es wird immer zwei Gruppen geben, eine für jede Seite. Die einen sind davon überzeugt, dass es nur darum geht, auf die richtige Weise zu handeln, somit würde das Paradoxon verschwinden. Sie denken, dass das Paradoxon ein Problem ist, das man lösen kann. Dies ist die technische oder rationale Einbildungskraft. Die anderen ignorieren die andere Seite des Paradoxons ganz einfach, für sie ist es eine Illusion, eine Tradition oder ein Vorurteil, das durch die Aufklärung überwunden werden kann. Dies ist die Arbeit der historischen oder romantischen Einbildungskraft, die das Paradoxon in ein theoretisches Problem umwandelt.

Die Dynamik der Moderne

Hellers Alternative ist es, uns einen anderen Rahmen für die moderne Einbildungskraft zu geben. Einen, der die Moderne selbst einrahmt. Sie sagt, wir seien alle mit zwei Verwendungen der Einbildungskraft konfrontiert und mit zwei verschiedenen Begriffen von Wahrheit. Keiner der beiden ist die Wahrheit der Metaphysik oder Religion der vergangenen Zeitalter. Die technologische und romantische Einbildungskraft fallen nie zusammen, sie sind verschränkt. Das ist das Paradoxon. Die Moderne ist heterogen, alle Grundlagen sind destruiert oder dekonstruiert. Die Grundlage der Moderne ist die Freiheit. Und Hellers Interpretation dieser Freiheit ist, dass wir es mit einer Welt ohne Grundlage zu tun haben, einer Welt, die sich permanent selbst neu erfinden muss. Deshalb gibt es keine kohärente Erzählung für die Moderne.

Was wahr ist, ändert sich alle paar Jahrzehnte. Heller gibt uns zwei Beispiele dieser Dynamik der Moderne, wobei das erste die Hebamme des zweiten ist. Jedes dominante moderne Konzept von Wahrheit oder Gerechtigkeit muss ständig befragt werden. Die Dynamik geht von einem radikalen Nihilismus bis zu einem Fundamentalismus. Dies klingt heute wahrer denn je. Weil alle Menschen gleich geboren sind, muss die vormoderne Wahrheit, dass manche Menschen frei sind und andere nicht, falsifiziert werden. Allerdings werden die Menschen trotzdem unterschiedliche Positionen in der sozialen Hierarchie der Institutionen einnehmen. Freiheit meint hier, dass wir alle Grenzen überschreiten können und dass wir das tun müssen. Die einzige Grenze, die bleibt, ist der Tod der singulären Person. Diese Zwickmühle ist das Paradoxon der Freiheit selbst, besehend aus der Perspektive der Einbildungskraft.

Freiheit – die keinen Grund gibt

Seit wir erfahren haben, dass Ágnes in den Plattensee hinausgeschwommen ist, fragen sich viele ihrer Wegbegleiter: War es ihre freie Entscheidung oder konnte sie nichts dazu tun? Das Paradox, die Tatsache, dass wir höchstwahrscheinlich keine Antwort bekommen werden, würde ihr großen Spaß machen. Ihre Theorie der Moderne gründet sich auf Freiheit, die keinen guten Grund ausmacht, da sie genau keinen Grund gibt, indem sie frei ist. Ich denke die ganze Zeit, dass Ágnes uns und das Schicksal austrickst und es für immer offen bleiben wird, welche Seite des Paradoxons die richtige ist. Wir können uns die Geschichte erzählen, dass sie die Wahl getroffen hat hinauszuschwimmen und nicht zurückzukehren. Oder aber, wir können versuchen, die Geschehnisse zu erklären. Genau das ist der Punkt ihrer Theorie, dass es nur in der Entwicklung, in den Handlungen möglich ist, die Bedeutung der Moderne oder die Bedeutung von irgendetwas überhaupt zu sehen.

Mein Herz ist schwer, aber ich habe Ágnes gekannt und sie war immer großartig und großzügig. Vor ein paar Wochen habe ich die wunderbare ungarische Sängerin Veronika Harcsa gehört, deren Singen wie ein Denken ist. Ich hatte mir vorgenommen, Ágnes diese Stimme vorzustellen, was ich nun nicht mehr tun kann. Genauso wie Ágnes nie wieder meine Hand nehmen und drücken wird, so wie sie es zwei Tage nach ihrem 90. Geburtstag in Wien getan hat. Einmal, während der schwierigsten Phase beim Schreiben meiner Doktorarbeit, sagte sie zu mir: "Aloisia, des Letzte, was Du in der Philosophie verstehen wirst, ist das Selbst!" Ich bin davon überzeugt, dass sie sich selbst verstanden hat. Alles, was wir wissen, ist, dass sie in den See hinausgeschwommen und nicht zurückgekehrt ist. (Aloisia Moser, 23.7.2019)