Mittlerweile sind 95 mögliche Missbrauchsopfer namentlich bekannt.

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Wels – Der Fall eines oberösterreichischen Arztes, der zumindest 95 Kinder missbraucht haben soll, lässt Experten nicht kalt: "Er hat mich erschreckt", sagte Christine Winkler-Kirchberger, die als Leiterin der Kinder- und Jugendanwaltschaft (KiJA) OÖ häufig mit dem Thema Missbrauch konfrontiert ist. Es falle ihr schwer zu glauben, dass sich erst nach 19 Jahren erstmals ein Kind jemandem anvertraut hat.

Winkler-Kirchberger erklärte sich das damit, dass sich oft "eine eigene Dynamik" zwischen Täter und Opfer entwickeln würde, durch die es Kindern schwer falle, sich jemandem mitzuteilen. Sie erinnerte an den Fall des Kärntner Kinderarztes Franz Wurst, der zahlreiche Kinder missbraucht hatte und ebenfalls erst nach langer Zeit aufgeflogen ist (Wurst hatte darüber hinaus seinen Patensohn zum Mord an seiner Frau angestiftet, Anm.).

Vermehrt Anfragen im Jänner

Bei der KiJA sei der aktuelle Fall erst im Jänner aufgeschlagen, ab da habe es vermehrt Anfragen gegeben, schilderte Winkler-Kirchberger. Kurz darauf war der Arzt in Untersuchungshaft genommen und der Fall – wenn auch noch nicht in der aktuellen Dimension – öffentlich bekannt geworden. Die Mutter jenes Buben, der sich offenbar als erster jemandem anvertraut und die Ermittlungen so in Rollen gebracht hat, schilderte am Mittwoch gegenüber mehreren Medien, dass sie damit zu kämpfen habe, nie etwas bemerkt zu haben. Sie war offenbar beim ärztlichen Aufklärungsgespräch noch dabei, bei den weiteren Untersuchungen aber nicht mehr.

"Noch keinen ähnlichen Fall"

"In dieser negativen Dimension habe ich persönlich noch keinen ähnlichen Fall erlebt", sagte Susanne Gahler von der Landesstelle Oberösterreich der Opferschutzorganisation Weißer Ring am Mittwoch. Für die relativ jungen Opfer sei es sehr schwierig gewesen, die Situation richtig einzuschätzen, meinte die Juristin, die in der psychosozialen Prozessbegleitung tätig ist.

Die Organisation betreut derzeit mehrere Betroffene im Fall eines Arztes aus dem Salzkammergut, der minderjährige Patienten sexuell missbraucht haben soll. Die Missbrauchsvorwürfe haben sich im Lauf der Ermittlungen massiv ausgeweitet: Mittlerweile sind 95 mögliche Opfer namentlich bekannt.

Betroffene "relativ jung"

Pauschale Maßnahmen zur Verhinderung solcher Übergriffe gebe es nicht, betonte Gahler. "Die Betroffenen waren zu der Zeit relativ jung, ein Kind kann nur schwer einschätzen, ob das jetzt ein Teil der Untersuchung oder ein sexueller Übergriff ist." Es kämen verschiedene Faktoren zusammen, dass Missbrauchsopfer nicht oder erst spät über Übergriffe sprechen. "Die Betroffenheit ist auch in den Familien groß, die Eltern machen sich natürlich Vorwürfe." Dass Mutter oder Vater das Kind zum Arzt hinbegleite, sei klar, aber "wieso sollte man mit hineingehen zu den Untersuchungen?"

Von Missbrauch Betroffene – auch im konkreten Fall aus Oberösterreich – können sich an jede Polizeiinspektion wenden oder etwa auch an die Staatsanwaltschaft Wels, rät Gahler. Weitere Informationen bieten außerdem die Berater und Beraterinnen, die beim Opfernotruf des Weißen Rings täglich kostenfrei unter der Telefonnummer 0800-112-112 erreichbar sind.

Keine Meldung bei Ärztekammer

Bei der Ärztekammer Oberösterreich ist vor dem öffentlichen Bekanntwerden des Falls keine Meldung über den Arzt, der zumindest 95 Kinder missbraucht haben soll, eingegangen. Man habe erst im Februar durch Medienberichte davon erfahren, schilderte Präsident Peter Niedermoser. Dann ließ sich der Mann selbst von der Ärzteliste streichen und kam damit der Streichung durch die Standesvertretung zuvor.

"Das ist eine ganz schreckliche Geschichte", zeigte sich Niedermoser am Mittwoch bestürzt, Vertrauen sei "schamlos missbraucht worden". Er betonte aber, dass man sich in "99,9 Prozent der Fälle" auf die Ärzte verlassen könne und Missbrauchstaten selten seien: "Ich bin jetzt 13 Jahre Präsident und kann mich seither an drei Fälle erinnern" – inklusive dem aktuellen. Aber frühere Geschehnisse hätten sich in deutlich kleinerer Dimension bewegt. (APA, 24.7.2019)