Wenn der Arztbesuch tiefe Kerben an der Kinder-Seele verursacht

Heribert Corn

Linz – Es ist die verzweifelte Suche nach Erklärungen. Der Versuch, das Unfassbare zumindest ein kleines Stück fassbarer zu machen. Fast 20 Jahre hat in der Salzkammergutgemeinde offensichtlich niemand mitbekommen, dass der liebe Onkel Doktor hinter verschlossenen Ordinationstüren mit grauenhafter Regelmäßigkeit zum Missbrauchstäter wurde. 95 minderjährige Opfer hat die Staatsanwaltschaft Wels bislang aufgelistet. Die Übergriffe sollen bei intimen Untersuchungen der bis zu 14 Jahre alten Buben stattgefunden haben.

Keine Widerrede

Dass so lange keiner Verdacht geschöpft hat und nicht unter den Mantel des Schweigens geblickt wurde, verwundert die renommierte Forensikerin und Gerichtspsychiaterin Adelheid Kastner "nur in Grenzen". Kastner erinnert in diesem Zusammenhang an die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche: "Da lagen die Fälle teilweise noch deutlich länger zurück."

Einerseits würden sich Betrof fene oft genieren, andererseits mische sich zur Scham ein Autoritätsproblem. Kastner: "Ob das nun der Pfarrer oder der Arzt ist – beide haben kraft ihres Amtes eine Deutungshoheit. Und wenn eben der Arzt sagt, dass bestimmte Handlungen Teil der Untersuchung und medizinisch notwendig seien, wird ein zehnjähriges Kind kaum widersprechen."

Der Mediziner, der sich derzeit in U-Haft befindet und sich bislang nur zu den minderschweren Fällen geständig zeigte, führte in den Einvernahmen aus, dass die "Untersuchungen" im Anal- und Genitalbereich seiner jungen Patienten "medizinisch indiziert" gewesen seien. Was aber ein – von der Staatsanwaltschaft Wels in Auftrag gegebenes – ärztliches Gutachten klar widerlegt.

Passender Rahmen

Kastner warnt aber auch davor, den Eltern den schwarzen Peter zuzuschieben: "Man darf den Betroffenen keinen Vorwurf machen. Oft sind solche Übergriffe nur sehr schwer zu erkennen. Der Täter bettet seine Taten natürlich in ein Rahmengeschehen, das einer Aufklärung nicht förderlich ist." In einer Klinik wären solche Übergriffe weitaus schwerer zu vertuschen. Kastner: "Aber in einer Facharztordination sind die Kinder immer mit demselben Arzt allein."

Es drängt sich dennoch die Frage auf, ob es nicht konkrete Alarmsignale gebe? Kastner: "Natürlich kann eine Wesensveränderung auf einen Missbrauch hindeuten." Generell sei aber eine "vertrauensvolle Beziehungen" zu den eigenen Kindern wichtig. "Eine Beziehung, die es möglich macht, auch über intime Angelegenheiten zu sprechen."

Von einer Anhebung des Strafrahmens bei Sexualdelikten vor allem auch als Präventivmaßnahme hält die Expertin wenig: "Eine höhere Strafe hat noch keinen Täter von seiner Tat abgehalten. Diese Überlegung, dass jemand sagt ‚Bis zu fünf Jahre Haft okay, aber zehn Jahre sind zu viel‘, gibt es einfach nicht. Und: Jeder Täter geht davon aus, dass er nicht erwischt wird." (Markus Rohrhofer; 24. 07. 2019)