Ocean Vuong wurde 1988 in Saigon, Vietnam, geboren und zog im Alter von zwei Jahren nach Amerika, wo er bis heute lebt. Für seine Lyrik wurde er mehrfach ausgezeichnet.

Tom Hines

"Du hast genickt, deinen Mundschutz wieder übergestreift und ihre Nägel weiterlackiert. Als die Frau gegangen war, hast du die Maske quer durch den Raum geschleudert. "Ein Scheißpferd?", hast du auf Vietnamesisch gesagt. "Verdammt noch mal ...""

Foto: AFP/Behrouz Mehri

Ma,

ich schreibe, um dich zu erreichen – auch wenn jedes Wort auf dem Papier ein Wort weiter weg ist von dort, wo du bist. Ich schreibe, um zu jenem Mal an der Raststätte in Virginia zurückzukehren, als du voller Entsetzen den ausgestopften Hirschkopf angestarrt hast, der über dem Getränkeautomaten bei den Toiletten hing; sein Geweih überschattete dein Gesicht. Im Auto hast du immer noch den Kopf geschüttelt. "Ich verstehe nicht, warum die Leute so was machen. Sehen die denn nicht, dass es ein totes Tier ist? Eine Leiche sollte verschwinden, nicht für immer so feststecken."

Ich denke jetzt an diesen Hirsch, wie du in seine schwarzen Glasaugen gestarrt und dich selbst, deinen ganzen Körper verzerrt in diesem leblosen Spiegel gesehen hast. Wie es nicht die groteske Zurschaustellung eines geköpften Tieres war, die dich so aufwühlte – sondern dass die Ausstopfung einen Tod verkörperte, der nicht enden würde, einen Tod, der ununterbrochen stirbt, während wir auf dem Weg zur Toilette daran vorbeigehen.

Ich schreibe, weil man mir gesagt hat, niemals einen Satz mit weil anzufangen. Aber ich wollte keinen Satz bilden – ich wollte freikommen. Weil Freiheit, so heißt es, nur der Abstand zwischen dem Raubtier und seiner Beute ist.

Das Gesicht deines Sohnes

Herbst. Irgendwo über Michigan macht sich eine Kolonie Monarchfalter von über fünfzehntausend Schmetterlingen auf ihre jährliche Wanderung nach Süden. Im Laufe von zwei Monaten, zwischen September und November, ziehen sie von Südkanada und den Vereinigten Staaten aus, immer einen Flügelschlag nach dem andern, zur Überwinterung nach Zentralmexiko.

Sie lassen sich zwischen uns nieder, auf Fensterbänken und Maschendrahtzäunen, Leinen, wie weichgezeichnet vom eben noch hängenden Gewicht der Wäsche, auf der Motorhaube eines verblichenen blauen Chevy; ihre Flügel schließen sich langsam, als würden sie fortgeräumt, ehe sie einmal zusammenschnellen, in den Flug hinauf. Eine einzige Nacht Frost kann eine ganze Generation auslöschen. Leben wird so zu einer Frage der Zeit, des richtigen Zeitpunkts.

Jenes Mal, ich war fünf oder sechs und wollte dir einen Streich spielen, sprang hinter der Tür im Flur hervor und rief: "Bumm!" Du hast aufgeschrien, dein Gesicht verzerrt undverharkt, bist dann in Schluchzen ausgebrochen und hast die Hand in der Brust verkrallt, dich nach Luft schnappend gegen die Tür gelehnt. Ich stand verblüfft da, mein Spielzeughelm auf dem Kopf verrutscht. Ich war ein amerikanischer Junge, der nachäffte, was er im Fernsehen sah. Ich wusste nicht, dass der Krieg immer noch in dir war, dass es überhaupt einen Krieg gegeben hatte, dass er, einmal hineingelangt, nie mehr weggeht – aber doch nur widerhallt, als Geräusch, das das Gesicht deines eigenen Sohnes formt. Bumm.

Jenes Mal, als ich in der dritten Klasse mithilfe von Mrs. Callahan, meiner Englischlehrerin im Förderunterricht, das erste Buch las, das ich wirklich mochte, ein Kinderbuch namens Donnerkuchen von Patricia Polacco. In der Geschichte entdecken ein Mädchen und seine Großmutter, wie sich am grünen Horizont ein Sturm zusammenbraut, doch anstatt die Rollladen herunterzulassen oder die Türen mit Brettern zu vernageln, machen sie sich daran, einen Kuchen zu backen. Etwas lichtete sich in mir bei dieser gefährlichen und doch kühnen Missachtung gesunden Menschenverstands. Während Mrs. Callahan hinter mir stand, ihr Mund an meinem Ohr, wurde ich tiefer in den Strom der Sprache hineingesogen. Die Geschichte entrollte sich, der Sturm grollte herein, während sie sprach, grollte dann noch einmal, wenn ich die Worte wiederholte. Einen Kuchen backen im Auge des Sturms. Sich mit Zucker nähren am Abgrund der Gefahr.

Das erste Mal, als du mich geschlagen hast, muss ich vier gewesen sein. Eine Hand, ein Wimpernschlag, eine Strafe. Mein Mund ein Aufflammen von Berührung.

Wie ich versuchte, dir Lesen beizubringen, so wie Mrs. Callahan es mir beibrachte, meine Lippen an deinem Ohr, meine Hand auf deiner, die Worte huschten unter unseren Schatten dahin. Doch ein Sohn, der seine Mutter erzieht – das verkehrte unsere Hierarchien und damit unsere Identitäten, die ohnehin fragil und vorgezeichnet waren in diesem Land. Nach dem Stottern und den missglückten Anläufen, die Sätze verkehrt oder verschlossen in deiner Kehle, nach dem peinlichen Scheitern hast du das Buch zugeknallt. "Ich brauche nicht zu lesen", hast du naserümpfend gesagt und dich vom Tisch abgestoßen. "Ich kann sehen – und bin bis jetzt damit klargekommen, oder etwa nicht?"

Dann jenes Mal mit der Fernbedienung. Ein blutunterlaufener Striemen auf meinem Unterarm, über dessen Herkunft ich meine Lehrer anlog. "Ich bin beim Fangenspielen hingefallen."

Wie du mit sechsundvierzig auf einmal unbedingt malen wolltest. "Gehen wir zu Walmart", hast du eines Morgens gesagt. "Ich brauche Malbücher." Monatelang hast du die Fläche zwischen deinen Armen mit all den Schattierungen versehen, die du nicht aussprechen konntest. Magenta, Zinnober, Kadmium, Schiefer, Tannengrün, Zimt. Jeden Tag hast du dich stundenlang über Farm- und Weidelandschaften gebeugt, über Paris, zwei Pferde auf einer windgepeitschten Ebene, das Gesicht eines Mädchens mit schwarzen Haaren und Haut, die du leer, weiß gelassen hast. Du hast sie überall in der Wohnung aufgehängt, die langsam an ein Grundschulklassenzimmer erinnerte. Als ich dich fragte: "Warum malen, warum jetzt?", hast du den Saphirstift abgesetzt und wie in Trance auf einen halb ausgemalten Garten geblickt. "Ich tauche einfach ein bisschen darin ein", hast du gesagt, "aber gleichzeitig kriege ich alles mit. Als ob ich noch ganz hier bin, in diesem Zimmer."

Wie du mir die Legokiste an den Kopf geworfen hast. Das Parkett blutgesprenkelt.

"Hast du dir jemals einen Ort ausgedacht", sagtest du – du warst gerade dabei, ein Thomas-Kinkade-Haus auszumalen –, "und dich dann dorthin versetzt? Hast du dich jemals von hinten gesehen, wie du weiter und tiefer in diese Landschaft hineingehst, weg von dir selbst?"

Wie konnte ich dir klarmachen, dass das, was du mir da erzähltest, Schreiben ist? Wie konnte ich sagen, dass wir uns trotz allem so nahe sind, die Schatten unserer Hände auf zwei verschiedenen Seiten ineinanderfließen?

"Es tut mir leid", sagtest du, als du die Wunde an meiner Stirn verbandest. "Hol deine Jacke. Du kriegst McDonald’s." Mit pochendem Kopf tunkte ich Chicken Nuggets in Ketchup, während du mir zusahst. "Du musst größer und stärker werden, okay?"

Gestern habe ich Roland Barthes’ Tagebuch der Trauer wieder gelesen, das Buch, an dem er nach dem Tod seiner Mutter ein Jahr lang täglich schrieb. Ich habe, schreibt er, den Körper meiner kranken, dann sterbenden Mutter gekannt. An diesem Punkt habe ich aufgehört. Und beschlossen, dir zu schreiben. Dir, die du noch am Leben bist.

Wir warfen uns in Schale

Jene Samstage am Monatsende, an denen wir zur Mall fuhren, wenn nach all den Rechnungen noch Geld übrig war. Manche Menschen machen sich für die Kirche oder Abendeinladungen schick. Wir warfen uns in Schale, wenn wir in ein Einkaufszentrum bei der Interstate 91 gingen. Du warst dann immer früh wach, hast dich eine Stunde lang geschminkt, dein bestes schwarzes Paillettenkleid angezogen, dein eines Paar goldener Creolen, schwarze Laméschuhe. Darauf hast du dich hingekniet, mir eine Handvoll Pomade ins Haar geschmiert, einen Seitenscheitel gezogen. Hätte ein Fremder uns dort gesehen, er hätte nicht sagen können, dass wir unsere Lebensmittel im Eckladen des Viertels an der Franklin Avenue kauften, wo der Eingang mit Quittungen eingelöster Essensmarken übersät war, Grundnahrungsmittel wie Milch und Eier dreimal so viel kosteten wie in den Vororten und der Pappkarton mit den verschrumpelten und eingedellten Äpfeln am Boden von Schweineblut durchweicht war, das aus einer Kiste längst aufgetauter Koteletts sickerte.

"Komm, holen wir uns die teure Schokolade", sagtest du meistens und zeigtest auf den Godiva-Chocolatier. Wir nahmen dann eine kleine Papiertüte mit vielleicht fünf oder sechs zufällig ausgewählten Schokoladenrechtecken. Häufig war das alles, was wir in der Mall kauften. Dann zogen wir los, reichten uns die Pralinen einzeln hin und her, bis unsere Finger von tintenschwarzer Süße glänzten. "So genießt man das Leben", sagtest du, an deinen Fingern saugend, deren rosa Nagellack von einer Woche Fußpflege abblätterte.

Jenes Mal mit deinen Fäusten, als du auf dem Parkplatz geschrien hast, dein Haar rot in die untergehende Sonne gestochen. Meine Arme schützend vor meinem Kopf, als deine Knöchel ringsum aufprallten.

Diese Samstage damals bummelten wir durch die Gänge, bis die Geschäfte eins nach dem andern ihre Rollgitter herunterließen. Dann gingen wir zur Bushaltestelle am Ende der Straße, unser Atem schwebte über uns, und das Make-up trocknete auf deinem Gesicht. Unsere Hände leer bis auf unsere Hände. Heute Morgen, kurz vor Sonnenaufgang, stand ein Hirsch vor meinem Fenster, in einem Nebel, der so dicht und hell war, dass der zweite Hirsch, nicht weit entfernt, aussah wie der unvollendete Schatten des ersten. Du kannst ihn ausmalen. Du kannst ihn "Die Geschichte der Erinnerung" nennen.

Migration kann ausgelöst werden durch den Stand des Sonnenlichts, der einen Jahreszeitenwechsel ankündigt, durch Temperatur, Pflanzenleben und Nahrungsangebot. Monarchweibchen legen entlang der Strecke Eier. Jede Geschichte hat mehr als einen Faden, und jeder Faden ist eine Geschichte der Teilung. Die Reise geht über 7770 Kilometer, weiter, als sich dieses Land ausdehnt. Die Monarchen, die in den Süden fliegen, werden nicht nach Norden zurückkehren. Jeder Aufbruch wird so zu etwas Endgültigem. Nur ihre Nachkommen kehren heim; nur die Zukunft besucht die Vergangenheit wieder. Was ist ein Land anderes als ein Satz ohne Grenzen, ein Leben?

Jenes Mal beim chinesischen Fleischer, als du auf das geröstete Spanferkel an seinem Haken gezeigt hast. "Die Rippen sind genau wie bei einem Menschen, der verbrannt wurde." Du bist in ein abgehacktes Kichern ausgebrochen, dann verstummt, hast mit verkniffenem Gesicht dein Portemonnaie herausgeholt und unser Geld nachgezählt.

Was ist ein Land anderes als ein Urteil: lebenslänglich?

Jenes Mal mit der Milchflasche. Das Zerbersten des Krugs auf meinem Schulterknochen, dann ein weißes Rieseln auf die Küchenfliesen.

Wie du damals im Six Flags Park die Superman-Achterbahn mit mir gefahren bist, weil ich mich nicht allein getraut habe. Wie du dich danach, dein Kopf in die Mülltonne getaucht, übergeben hast. Wie ich vor lauter Entzücken vergaß, Danke zu sagen.

Es war dein Geburtstag

Wie wir einmal zu Goodwill gingen und Waren mit einem gelben Sticker in den Einkaufswagen stapelten, weil man an dem Tag zusätzlich fünfzig Prozent Rabatt darauf bekam. Ich schob den Wagen und sprang hinten auf, fühlte mich im Dahingleiten reich mit unserer Beute ramschiger Schätze. Es war dein Geburtstag. Wir prassten. "Sehe ich aus wie eine echte Amerikanerin?", fragtest du und drücktest ein weißes Kleid an dich. Es war ein wenig zu förmlich, als dass du es bei irgendeiner Gelegenheit hättest anziehen können, aber doch leger genug, dass immerhin die Möglichkeit dafür bestand. Eine Chance. Ich nickte grinsend. Der Wagen war inzwischen so voll, dass ich nicht länger sehen konnte, was vor mir lag.

Jenes Mal mit dem Küchenmesser – das du genommen, dann hingelegt hast, bebend, leise sagtest: "Raus. Raus mit dir." Und ich rannte aus dem Haus, die schwarzen Sommerstraßen hinunter. Ich rannte, bis ich vergaß, dass ich zehn war, bis mein Herzschlag alles war, was ich von mir selbst hören konnte.

Jenes Mal in New York, eine Woche nachdem Cousin Phuong bei dem Autounfall ums Leben gekommen war, als ich in die Linie 2 Richtung Uptown stieg und beim Öffnen der Türen sein Gesicht klar und rund vor mir sah, wie es mich unverwandt anblickte, lebendig. Ich japste – und wusste doch, dass es nur jemand war, der ihm ähnlich sah. Zu sehen, was ich doch eigentlich nie wiedersehen sollte, machte mich trotzdem fertig – die Gesichtszüge so getreu, der massive Kiefer, die hohe Stirn. Sein Name machte in meinem Mund einen Satz nach vorn, bevor ich ihn unterdrücken konnte. Oben auf der Straße hockte ich mich auf einen Hydranten und rief dich an. "Ma, ich hab ihn gesehen", hauchte ich. "Ma, ich hab ihn gesehen, ich schwör’s. Ich weiß, es ist dumm, aber ich habe Phuong in der Subway gesehen." Ich hatte eine Panikattacke. Und du wusstest es. Für eine Weile bist du stumm geblieben, dann hast du angefangen, die Melodie von Happy Birthday zu summen. Es war nicht mein Geburtstag, aber da war das einzige englische Lied, das du kanntest, und du fuhrst fort. Und ich lauschte, das Telefon so fest an mein Ohr gepresst, dass noch Stunden später ein rosa Rechteck in meine Wange geprägt war.

Ich bin achtundzwanzig Jahre alt, 165 cm groß, 50 Kilo schwer. Ich sehe von genau drei Seiten gut aus und ätzend von überall sonst. Ich schreibe dir aus einem Körper heraus, der einmal dir gehörte. Das heißt, ich schreibe als ein Sohn.

Wenn wir Glück haben, ist das Ende eines Satzes der Punkt, an dem wir vielleicht anfangen können. Wenn wir Glück haben, wird etwas weitergereicht, ein weiteres Alphabet unserem Blut eingeschrieben, den Sehnen und Nervenzellen; Ahnen, die ihrer Nachkommenschaft den stillen Drang aufbürden, nach Süden zu fliegen, auf jenen Ort in der Erzählung zuzuhalten, den niemand überdauern sollte.

Jenes Mal, als ich im Nagelstudio mitbekam, wie du eine Kundin über einen kürzlichen Verlust trösten wolltest. Während du ihre Nägel lackiertest, sprach sie unter Tränen. "Ich habe mein Baby verloren, mein Kleines, Julie. Ich kann es nicht glauben, sie war meine Stärkste, meine Älteste." Du hast genickt, die Augen nüchtern über der Maske. "Ist gut, ist gut", hast du auf Englisch gesagt, "nicht weinen. Deine Julie", fragtest du dann, "wie ist gestorben?"

"Krebs", sagte die Frau. "Und auch noch im Garten! Sie ist gleich da auf der verdammten Wiese hinterm Haus gestorben." Du hast ihre Hand hingelegt, deinen Mundschutz abgenommen. Krebs. Du hast dich vorgebeugt. "Meine Mama auch, sie von Krebs gestorben." Im Raum wurde es still. Deine Kollegen rutschten auf ihren Stühlen hin und her. "Aber was passiert in Garten, warum sie da gestorben?" Die Frau wischte ihre Augen. "Da hat sie gelebt. Julie war mein Pferd."

Du hast genickt, deinen Mundschutz wieder übergestreift und ihre Nägel weiterlackiert. Als die Frau gegangen war, hast du die Maske quer durch den Raum geschleudert. "Ein Scheißpferd?", hast du auf Vietnamesisch gesagt. "Verdammt noch mal, ich wollte schon Blumen am Grab der Tochter ablegen!" Für den Rest des Tages, während du an der einen oder anderen Hand arbeitetest, hast du immer wieder aufgesehen und gerufen: "Es war nur ein dummes Pferd!", und wir haben gelacht.

Jenes Mal mit dreizehn, als ich endlich Stopp sagte. Deine Hand in der Luft, mein Wangenknochen brennend vom ersten Schlag. »Schluss, Ma. Hör auf. Bitte.« Ich sah dich hart an, so wie ich inzwischen gelernt hatte, in die Augen derer zu starren, die mich schikanierten. Du hast dich abgewandt, bist wortlos in deinen braunen Wollmantel geschlüpft und zum Laden gegangen. "Ich hole Eier", sagtest du über die Schulter, als ob nichts gewesen wäre.

Doch wir wussten beide, du würdest mich nie wieder schlagen.