San Juan – Es sind fast 900 Seiten, und sie haben es in sich. "Der Gouverneur beleidigt fast alle prominenten Bürger und nahezu jede Interessensgruppe, die er eigentlich vertritt", fasst es der "Economist" treffend zusammen – und das ist keine Übertreibung. Opfer von Hurrikan María, Frauen, politische Gegner, Homosexuelle im Allgemeinen und Popstar Ricky Martin im Speziellen, Angehörige ethnischer Minderheiten, Dicke, Pathologen: Sie alle werden von Puerto Ricos Gouverneur Ricardo Rosselló und einer kleinen Gruppe rund um ihn teils derb in geleakten Chatprotokollen aus der Nachrichten-App Telegram beschimpft. Immer wieder ist das auch mit Gewaltphantasien verbunden.

Nun wurde Rosselló das zum Verhängnis: Er kam am Donnerstag einem Amtsenthebungsverfahren zuvor und kündigte seinen Rücktritt an. Der Inselchef gab damit den gut zwei Wochen andauernden Massenprotesten nach, bei denen genau das gefordert worden war.

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Ricardo Rosselló erklärte seinen Rücktritt als Gouverneur von Puerto Rico.
Foto: Reuters

Zyniker hatten recht

Zu sagen, dass die Nachrichten den Volkszorn auf der Insel überschäumen haben lassen, ist ebenfalls keine Übertreibung. Aber es sind lange nicht nur die Nachrichten allein, die die folgenreiche Protestbewegung angefacht haben. Sie waren eher der letzte Tropfen in einen schon sehr vollen Fass. Schulden in Höhe 120 Milliarden US-Dollar führten 2017 zur Zahlungsunfähigkeit; strenge Austeritätsvorgaben, oktroyierte Sparpläne der US-Bundesregierung in Washington, D.C., und Massenauswanderung waren die Folge – just in einem Moment, in dem sich die 3,2 Millionen Einwohner des US-Außengebiets im Streit mit Präsident Donald Trump ohnehin schon an den Rand gedrängt fühlten.

Daran, dass ihre Forderungen nach US-Bundesstaatsstatus vom Mainstream der amerikanischen Politik nicht einmal ignoriert werden, dass sie bei Katastrophenhilfe lange links liegengelassen wurden – daran hatten sich manche ohnehin fast schon gewöhnt.

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Demonstrantinnen lauschten gespannt der Ansprache des Inselchefs.
Foto: Reuters / Gabriella N baez

Neu war den meisten Bürgern auch nicht, dass sich die Volksvertreterinnen und Volksvertreter aus einer eigenen politischen Klasse nicht immer an die Regeln des Anstandes oder der Gesetze halten. Doch dass die Dinge so liegen, wie sie das veröffentlichte Chatprotokoll nun gezeigt hat, das hatten nur wenige Zyniker vermutet. Die lokale Presse spricht von "Telegramgate" oder "Rickyleaks".

Leichen für "Krähen"

Mit seinem Finanzberater Sobrino Vega scherzte Rosselló über die sich wegen Pathologenmangels angeblich "türmenden Leichenberge" nach dem Hurrikan María, die man zum Füttern von "Krähen" verwenden könne, womit er seine politischen Gegner meint. Gleich zwei Konkurrentinnen bezeichnete er als "Huren", im Fall einer New Yorker Stadtabgeordneten wünschte er sich, "jemand möge sie verprügeln". Und die Idee, eine puertoricanische Gouverneurskonkurrentin erschießen zu lassen, bezeichnete er als "einen großen Gefallen für mich".

Die Homosexualität von Popstar Ricky Martin nahm er als Anlass, diesem Chauvinismus zu unterstellen, weil er nicht mit Frauen schlafe. Außerdem werden in dem Chatprotokoll geheime Staatsinformationen und private Daten ausgetauscht, in mehreren Fällen finden sich Hinweise auf Korruption.

Die Rede wurde auch via Stream im Internet übertragen.
Foto: APA / AFP / Ricardo Arduengo

Dass kurz vor der Veröffentlichung auch noch eine Korruptionsaffäre im engen Zirkel rund um Rosselló aufgeflogen war, machte unter diesen Bedingungen das Kraut kaum mehr fett.

Später Rücktritt

Künstler, Prominente, aber vor allem auch hunderttausende enttäuschte Bürgerinnen und Bürger gingen fortan auf die Straße. Ihnen begegneten Sicherheitskräfte, die auch vor dem Einsatz von Tränengas und Pfefferspray nicht zurückschreckten.

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Schon tagelang hatten sich Demonstranten Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften geliefert.
Foto: APA / AFP / Getty Images / Joe Raedle

Mehr als zwei Dutzend Polizisten wurden verletzt – die Proteste aufzuhalten oder gar zu beenden, das gelang den Behörden aber nicht. Rosselló, Spross einer Politikerdynastie, begann nur langsam die Konsequenzen zu ziehen: Zunächst kam eine Entschuldigung, etwas später die Ankündigung, bei den nächsten Wahlen nicht mehr anzutreten. Der Rücktritt, über den zuvor schon mehrfach spekuliert worden war, kam erst spät.

Auch Sänger Ricky Martin, den Rosselló homophob beschimpft hatte, beteiligte sich an den Protesten.
Foto: APA / AFP / Eric Rojas

Wie genau der Chat an die Öffentlichkeit kam, ist immer noch nicht ganz klar. Rosselló und seinem Kreis aus rund einem Dutzend Chatpartnern ist es bisher offenkundig nicht gelungen, den Urheber zu finden. Veröffentlicht hat das Dokument schließlich eine örtliche private Nachrichtenagentur, das "Zentrum für investigativen Journalismus". Auch dieses war von Rosselló und Mitgliedern seiner Gruppe schon zuvor beschimpft worden. (Manuel Escher, 25.7.2019)