STANDARD: Herr König, "Verwundbarkeit ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens", schreiben Sie am Ende Ihrer Autobiografie "Blinder Galerist". Vermittelt Kunst Stärke im Umgang mit dieser Verwundbarkeit?

König: Ich habe es so erfahren, weil ich in die Kunst hineingeboren wurde und mit ihr aufwuchs. Kunst kann das leisten. Sie hinterfragt unsere Weltsicht und lässt uns immer wieder neu über die Welt nachdenken. Daraus erwachsen ermutigende Kräfte.

STANDARD: In der Gesellschaft wird der Kunst nicht selten die Rolle des Bittstellers zugewiesen, vor allem wenn sie Geld braucht...

König: Ja, weil sie für elitär gehalten wird. Je mehr sie zum Alltag gehört, desto selbstverständlicher wird ihre Rolle in der Gesellschaft. Darum sollten Museumsbesuche keinen Eintritt kosten. Ich versuche, mit meiner Arbeit möglichst viele Menschen zu ermuntern, sich der Kunst zu öffnen und mit ihr auseinanderzusetzen. Ausstellungen und Veranstaltungen in unserer Galerie halte ich so niederschwellig wie möglich. Ich möchte die Menschen einladen, Kunst kennenzulernen und ihre eigenen Erfahrungen damit zu machen. Kunst kann für jeden eine Bereicherung sein.

Johann König, Daniel Schreiber, "Blinder Galerist". € 24,- / 168 Seiten. Propyläen-Verlag, Berlin 2019
Foto: Propyläen-Verlag

STANDARD: Innerhalb von nicht einmal einem Jahrzehnt haben Sie es geschafft, ganz oben anzukommen. Wie erging es Ihnen, als Sie beim Schreiben des Buches den Weg noch einmal zurücklegten?

König: Angekommen bin ich nicht. Ich befinde mich mitten auf meinem Weg. Aber 25 Jahre nach meinem Unfall kann ich anders zurückschauen und Resümee ziehen. Mit dem Buch möchte ich ein wenig Licht ins Dunkel des Kunstbetriebs bringen und Menschen für Kunst begeistern. Vor allem aber will ich ermutigen, sich etwas zu trauen, auch wenn alle Voraussetzungen dagegensprechen. So war meine Geschichte. Nach meinem Unfall war ich blind. Als ich in Berlin meine Galerie eröffnete, hatte ich trotz zahlloser Operationen nur wenige Prozent Sehvermögen. Erst meine letzte Hornhauttransplantation vor zehn Jahren brachte mich in die Welt der Sehenden zurück.

STANDARD: Sie sollten sich mit moderner und zeitgenössischer Kunst auseinandersetzen, weil die Sehenden dafür genauso blind seien wie die Blinden ...

König: Das sagte mein Kunstlehrer an der Blindenstudienanstalt in Marburg. Ich fand diese Analogie sehr lustig. Tatsächlich braucht man bei vielen Werken der Gegenwartskunst eine Anleitung oder Einführung. Man muss sich auf sie einlassen. Viele Kunstwerke erschlossen sich mir, auch wenn ich sie nicht sehen konnte. Als Kind habe ich mich geärgert, warum wir so ein bescheuertes Sofa haben – einen Teppich auf Stahl, total unbequem zum Sitzen. Ich war neidisch auf die Sofalandschaften meiner Freunde, auf denen sich die ganze Familie zum Fernsehen versammelte. Später jedoch erkannte ich, was dieses Sofa von Franz West, einem engen Freund der Familie, mit mir gemacht hat. Inmitten solcher Gegenstände groß zu werden eröffnet einen Zugang zur Kunst, der nicht nur visuell ist, sondern auch auf anderer Ebene erfolgt. Marcel Duchamps Fontaine, ein umgedrehtes Urinal mit der Signatur "R. MUTT 1917", offenbart seine Aussage und Bedeutung nicht über das Visuelle.

STANDARD: Kann Kunst heute noch so aufregen wie etwa im 20. Jahrhundert?

König: Das ist schwierig geworden. Wenn Kunst als Aufreger angesetzt wird, überzeugt sie meist nicht. Dann ist sie nur um den Skandal bemüht wie zum Beispiel die Installation Barca Nostra von Christoph Büchel auf der diesjährigen Biennale von Venedig. Er stellte das Wrack des 2015 vor Lampedusa verunglückten Flüchtlingsschiffes als Kunstobjekt aus. Ästhetisch war das eine Enttäuschung.

STANDARD: Sie haben es schon Ihrer Babysitterin erklärt: Man muss es zuerst machen. Kunst muss immer neu sein. Ist das nicht ein westlicher Kunstbegriff im Gegensatz zur östlichen Vorstellung, der Künstler schaffe von einem vorhandenen Kanon immer kunstvollere Varianten?

König: Ich sehe darin keinen Widerspruch. Der Künstler muss Neues schaffen. Aber dieses Neue entsteht in einem existenten System, auf das er sich zwangsläufig bezieht. Kein Künstler kann frei arbeiten. Jeder muss mit dem Gewesenen umgehen. Darum ist das Malen so schwierig. Die Tradition der Malerei reicht unendlich weit zurück. Da bedarf es ausgiebiger Kenntnisse, um weiterzukommen. Der Künstlerin Katharina Grosse etwa gelingt es, Fragen nach dem Bild und der Malerei neu zu stellen. Ihre Sprayarbeiten besitzen eine eindringliche Kraft. Die Fortschrittsidee kann auch in einem Rückgriff auf alte Techniken umgesetzt werden. Indem man verlorene Techniken wiederbelebt und sie in Bezug setzt zu unserer heutigen digitalen Welt, in der es keine Rolle mehr spielt, ein Bild zu machen, weil alle ständig Millionen von Bildern produzieren, taucht etwas Neues auf.

STANDARD: Kunst entsteht aus Kunst?

König: Ja, Franz West greift den Begriff des Readymade auf und treibt ihn weiter, indem er ihn umkehrt. Das Kunstwerk wird wieder zum Gegenstand, den man benützt. Damit schafft West auch eine neue Idee von Skulptur, die es bis dahin nicht gab. Das Neue entsteht, weil Künstler in Beziehung zu vorhandenen Arbeiten neue schaffen, die wieder von anderen Künstlern aufgegriffen werden. Es geht nicht darum, irgendetwas zu erfinden.

STANDARD: "Der Uhu war nicht vermarktbar" – diese Feststellung wirft die Frage auf, welchen Einfluss der Kunstmarkt auf das Kunstschaffen nimmt.

König: Das betraf die Installation von Natascha Sadr Haghighian: Die Krankheiten des Uhus und ihre Bedeutung für die Wiedereinbürgerung in die Bundesrepublik Deutschland. Hinter dem Titel verbarg sich eine fantastische Meditation über die Freiheit, die man körperlich erfuhr. Sobald jemand die Galerie betrat, erklangen Geräusche, als würde ein Uhu durch die Galerie flattern, und mit jedem weiteren Besucher schien noch ein Uhu hinzuzukommen. Dass es mir nicht gelang, die Arbeit zu verkaufen, war nicht erstaunlich. Denn es handelte sich um ein überaus kompliziertes technisches Gebilde mit zahlreichen Lautsprechern, für das man erst einmal einen passenden Raum brauchte. Deshalb ist eine unabhängige institutionelle Museumslandschaft so wichtig, die frei vom Markt Kunst kauft und fördert.

STANDARD: Wie steht es in der heutigen Kunstszene um das Mäzenatentum?

König: Leider gibt es zu viele, die meinen, sie wären Mäzene. Wenn jemand ein bisschen Kunst kauft, ist das eine wichtige Kunstförderung. Anders als bei Käufen auf dem Sekundärmarkt kommt das Geld über die Galerie direkt beim Künstler an. Es sollte durchaus betont werden, dass es sich beim Kunstsammeln auch um Kunstförderung handelt und nicht nur um Investieren. Mäzenatentum aber ist noch einmal etwas anderes.

STANDARD: Wo geht es Ihrer Einschätzung nach hin in der Kunst? Noch mehr in Richtung Verschmelzung der Genres oder in Richtung neuer Techniken?

König: Man kann unterschiedliche Entwicklungsmomente feststellen. Die Auflösung des Mediums ist ein wichtiges Thema, die Auflösung des Geschlechts ebenfalls. Dann gibt es den Post-Human-Gedanken: Was kommt nach dem Menschen, wenn sich ihm die Maschine immer mehr annähert? Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir perfekte Imitationen von Menschen in Computerform haben, die auch Kommunikation betreiben. Künstler schaffen heute schon Werke mit künstlicher Intelligenz, die besser sind als von Menschen geschaffene.

STANDARD: Wird die Entwicklung auch noch mehr in Richtung Einbeziehung des Betrachters vorankommen?

König: Das kann man so sehen, weil es jetzt diese Tendenz gibt. Aufgrund der sozialen Netzwerke ist Teilhabe ein großes Thema. Mich hat das aber immer schon begeistert. Für mich ist der Teilhabegedanke ein natürlicher Impuls, die ganze Welt in die Kunst zu holen. Ich wollte von Anfang an Kunst zeigen, die Erlebnisse schafft und zum Interagieren einlädt. Gegenwärtig haben wir in der Galerie eine Ausstellung der amerikanischen Künstlerin Kathryn Andrews. Auf der Art Basel Miami Beach zeigten wir 2018 Wheel of Fortune Cookie No.1 von ihr, eine große Scheibe mit Hibiskusblüte und Glückskeks, die bei jedem Drehen den Blick auf rätselhafte Botschaften fallen lässt. Für Circus Empire hat sie unsere Galerie jetzt in einen Zirkus verwandelt, an dem die Besucher mitwirken können.

STANDARD: Und wohin soll es mit Ihrer Galerie gehen?

König: Mein nächster Schritt führt mich nach Wien. Tatsächlich hätte ich 2002 meine Galerie fast in Wien gegründet. Ich entschied mich dann doch für Berlin, weil mich die Aufbruchsstimmung der Stadt nach dem Ende der Teilung anzog. Aber ich habe große Sympathie für Österreich und auch österreichische Wurzeln. Meine Mutter kommt aus Wien. Jetzt bemühe ich mich darum, eine Dependance zu eröffnen. Francesca von Habsburg, die im Augarten lange Zeit ihre Ausstellungsräume TBA21 führte, zog vor ein paar Jahren aus. Und auch die Werke des Bildhauers Gustinus Ambrosi übersiedelten ins Belvedere. So stehen die Räume leer. Ich befinde mich im Gespräch mit der Burghauptmannschaft. (Ruth Renée Reif, Album, 27.7.2019)