Das Regierungsgezerre um die EU-Kommission habe das Bürgervertrauen beschädigt, sagt Othmar Karas: "Wir müssen um die liberale Demokratie kämpfen."

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Das Modell Spitzenkandidat bei Europawahlen mit dem Versuch, mehr Bürgernähe zu schaffen, sei von den Staats- und Regierungschefs "düpiert worden". Insbesondere "die Achse Emmanuel Macron und Viktor Orbán" sei dafür verantwortlich, sagt Othmar Karas (ÖVP). Für ihn als langjährigen EU-Abgeordneten (seit 1999) bestehe kein Zweifel: "Es ist schwerer Schaden entstanden, unentschuldbar vor den Wählern."

Der 61-Jährige nimmt im Gespräch mit dem STANDARD kein Blatt vor den Mund – ob es um den französischen Präsidenten oder seinen Parteifreund in der ungarischen Regierung geht. Anfang Juli wurde Karas mit großer Mehrheit zu einem der Vizepräsidenten des EU-Parlaments gewählt.

Indem die dort vertretenen Parteien seit 2014 versucht hätten, mit Spitzenkandidaten und gemeinsamen Wahlprogrammen anzutreten – mit dem Ziel, dass der Wahlgewinner nächster Präsident oder Präsidentin der Kommission wird –, seien erste "Fortschritte zur Stärkung der Demokratie auf europäischer Ebene erzielt" worden.

Rückschritt in Demokratie umdrehen

Die traditionell große Macht der Regierungschefs hätte reduziert werden sollen, analysiert er. Die Nominierung von Ursula von der Leyen durch die Staats- und Regierungschefs, das Scheitern der EVP- und SP-Spitzenkandidaten Manfred Weber und Frans Timmermans zeigen: "Es gab einen Rückschritt." Die Parlamentarier seien mit schuld, hätten es nicht geschafft, sich intern zu einigen, den Regierungschefs jemanden vorzuschlagen, meint Karas, das Parlament sei geschwächt worden, ganz im Sinne von Macron: "Er will die EU-Kommission zu einem Ratssekretariat machen."

"Die Frage ist also, was macht man jetzt daraus", fährt Karas fort, um gleich selbst die Antwort zu liefern: "Das Modell Spitzenkandidat ist nicht tot. Im Gegenteil, diese Konfrontation muss zum Turbo einer nötigen Demokratiereform werden." Eine solche sei von Regierungschefs nicht zu erwarten. Sie müsse vom EU-Parlament ausgehen, "gemeinsam mit den Bürgern und den nationalen Parlamenten". Dass sich die gewählte Kommissionschefin von der Leyen zur Verbündeten der EU-Abgeordneten erklärt habe, sieht er als gutes Zeichen.

Reformierte EU-Wahl 2024

Ziel müsse sein, dass bereits die nächsten Europawahlen 2024 nach neuen Regeln ablaufen: "Es gibt derzeit kein gemeinsames europäisches Wahlrecht und auch kein ausgeprägtes Parteiensystem", erklärt er. Das EU-Parlament sei im Grunde Ausdruck von nationalen Wahlen in 28 Mitgliedsländern. Genau da werde die Reform ansetzen müssen: "Wir benötigen als Erstes ein europäisches Wahlrecht, in dem das Modell der Spitzenkandidaten verankert ist, so wie in den meisten Nationalstaaten üblich."

Es solle zu einem "Mischsystem" kommen, bei dem ein Teil der 751 EU-Abgeordneten mit Direktmandaten auf Wahllisten in ihren Heimatstaaten gewählt werden, sagt Karas, ein anderer Teil aus "trans nationalen Listen", die in allen Mitgliedstaaten aufliegen – also per "Zweitstimme". Er glaubt, dass zum Start etwa ein Drittel der Mandatare von EU-weiten Listen kommen könnte. Der Spitzenkandidat der Siegerpartei solle dann ersten Zugriff auf den Posten des Kommissionschefs haben und versuchen dürfen, eine Mehrheit zu bilden.

Start von "Bürgerkongressen"

Neben dem EU-Wahlrecht müsse es auch ein europäisches Parteiengesetz geben, in dem Transparenz- und Finanzierungs regeln verankert sind. Um dieses große Demokratiereformpaket zu starten, schwebt Karas der Start von "Bürgerkongressen" über die Vertretungsbüros in den Mitgliedsländern ab Herbst vor. "Bis 2022/23 sollte das abgeschlossen sein. Es wäre wichtig, dass wir nicht nur über Wahlrecht, sondern über die Zukunft der Demokratie und ihre Gefährdung eine Debatte führen.

Es geht um einen ‚Kongress Zukunft Europa‘", sagt der Abgeordnete. Für ihn persönlich steht fest, dass die EU dabei nicht in Richtung eines Präsidialsystems mit einem direkt gewählten Kommissionschef gehen solle, wie manche glaubten, im Gegenteil: "Wir müssen die Parlamente stärken." Bei den Europawahlen 2024 sollten die Bürger entscheiden, wohin die Reise geht, sagt Karas.

Er würde das Demokratiepaket am Wahltag gleich auch der ersten europäischen Volksabstimmung unterziehen: "Wir müssen die liberale Demokratie zum Thema machen, müssen sie stärken. Wir brauchen bis 2024 eine Charta des Parlamentarismus und der Demokratie in Europa." (Thomas Mayer aus Brüssel, 27.7.2019)