Foto: Heidi Seywald

Selten zuvor hatte ein Skandal die innenpolitische Szenerie in einem solchen Ausmaß aufgewühlt. Beinah täglich wurden im Wahlkampf 2017 neue Details der schon zum Synonym für Dirty Campaigning hochstilisierten "Silberstein-Affäre" durch den Medienwolf gedreht. Jeder politisch Interessierte ging davon aus, dass die SPÖ, für die Silberstein gearbeitet hatte, bei der Wahl kerzengerade abstürzen würde. Die Nachwahlanalyse ergab: mitnichten. Silberstein hatte das Wählerverhalten nur marginal beeinflusst.

Kann es also sein, dass politische Skandale dem Wählervolk auf gut Wienerisch "powidl" sind? Ja und nein. Politische Affären regen auf, aber eben nicht jeden. Medien- und Politikwissenschafter wie Peter Filzmaier weisen immer wieder darauf hin, dass zwischen Wahlberechtigten und Parteiwählern unterschieden werden müsse.

Im Fall Silberstein meinten etwa SPÖ-Wähler und -Sympathisanten: Na gut, sauber war das zwar nicht, was Silberstein da fabriziert hat, aber dieser Sebastian Kurz ist viel verdammungswürdiger, also im Großen und Ganzen war dieses Dirty Campaigning schon okay. Sebastian Kurz habe es nicht anders verdient.

Dass sich die ÖVP über Silberstein erregte, konnte der SPÖ egal sein, denn Schwarze wählen in der Regel ohnehin nie rot. Also blieben trotz medial hochgejazzten Skandals die Blöcke stabil und das Stimmenverhältnis im Groben intakt. Im Nachhinein verfestigte sich der Eindruck: Der Skandal rührte die Bevölkerung im Allgemeinen eigentlich nicht.

Kurz fallenlassen?

Anderer Modellfall: das Ibiza-Gate der FPÖ. Die medial-politische Erhitzung erfasste zwar alle anderen Parteien, ließ die FPÖ-Anhänger aber kalt. Sie wurden mit dem Spin "A b'soffene G'schicht" immunisiert. Die FPÖ konnte ihre Gefolgschaft bei der Stange halten, das Parteienkräfteverhältnis blieb in etwa gleich, was abermals irrtümlich den Eindruck erweckte, selbst derartige Skandale wie das Ibiza-Video kämen in der Bevölkerung gar nicht an.

Und ähnlich läuft es in der aktuellen Schredder-Affäre um die Vernichtung von Festplatten aus dem damaligen ÖVP-Kanzleramt von Sebastian Kurz. ÖVP-Wähler halten zwar den Atem an und meinen: nicht ganz sauber, was da abgelaufen ist. Aber deswegen Kurz fallenlassen? Die ÖVP bleibt geschlossen unter sich und bekommt zur argumentativen Beruhigung ein Framing von Parteichef Kurz mitgeliefert. Das Schreddern sei eine Art Notwehr gewesen, die SPÖ hätte ja Daten absaugen können. Siehe Silberstein-Skandal.

Politische Gruppierungen bleiben im Grunde also unbewegt, auch wenn es im eigenen Haus brennt. Wie gering der Impact von Skandalen auf die gesamte politische Society ist, kann auch anhand zahlreicher globaler Beispiele nachvollzogen werden. Das markanteste, von Europa mit Kopfschütteln verfolgte Fallbeispiel: Donald Trump. Trotz Enthüllungen, extremer Peinlichkeiten, schwerer Beschuldigungen und drohender Anklagen blieb Trumps Anhängerlager bisher weithin stabil.

Irrationales Zusammenhalten

Eine Erklärung dieses Phänomens des sehr homogenen Gruppenverhaltens liefert die gründlich untersuchte sozialpsychologische Theorie der sozialen Identität, der "In- und Outgroups".

In dem Moment, in dem sich Gruppen bilden, werden ganz spezielle Phänomene wach. Die eigene Gruppe wird auf-, die andere abgewertet. Skandale der "Outgroup" werden verallgemeinert – "Die Roten, die Schwarzen, die Blauen sind halt so" –, die "Ingroup" wird individualisiert. Ein Vorfall in der eigenen Gruppe wird zum Einzelfall, Ausrutscher, zur Schlamperei. Gruppen halten oft bis zu Irrationalität zusammen.

Die zweite Erklärungsebene, die hier eingeschoben werden muss, ist jene der medialen Realitäten. Das Tempo des Newsflows killt die Bedeutung der Nachricht. Die News werden durchs Netz gejagt, was am Vormittag noch ein Skandal war, ist am Nachmittag eine Randnotiz. Das Gewicht der Nachricht nimmt im Sekundentakt ab

Für Leser, Hörer, User entschwindet die Orientierung bezüglich dessen, was wirklich wichtig, was wirklich von gesellschaftspolitischer Relevanz ist. Speed kills the message. Was natürlich die Tür für auf die eigene Gruppe zurechtgeschnittene Botschaften weit aufmacht. Denen wird vertraut.

Sebastian Kurz ließ in einem Interview mit Servus TV en passant fallen, er rechne sogar mit Deep-Fake-Angriffen auf seine Person. Man könne ja bereits Fotos und Filme faken. Die Botschaft an die Seinen: Was immer in den nächsten Wochen bis zur Wahl auch auftauchen mag – fürchtet euch nicht, alles gefakt. Dieser Schutzschirm, den Kurz aufspannt, wird wohl seine Funktion erfüllen, die türkise Gemeinde weiter zusammenhalten und etwaige neue Skandale und Affären abprallen lassen. (Walter Müller, 26.7.2019)