Die Moskauer Polizei war am Samstag im Großeinsatz. Wieder einmal. Denn seit Mitte Juli demonstriert die Opposition – vorzugsweise am Wochenende – gegen den Ausschluss ihrer Kandidaten von der Wahl zur Moskauer Stadtduma im September. Die Veranstaltungen verliefen friedlich, waren aber von der Obrigkeit nicht genehmigt worden. Folglich nahm die Polizei jedes Mal Teilnehmer fest.

Da zur zweiten Kundgebung immerhin 20.000 Menschen kamen, hatten sich die Sicherheitskräfte auf das dritte Wochenende akribisch vorbereitet: Schon im Vorfeld wurden die Oppositionsführer aus dem Verkehr gezogen. Alexej Nawalny hatte ein Gericht bereits am Donnerstag zu 30 Tagen Ordnungshaft verurteilt. Am Sonntag wurde Nawalny wegen einer "schweren allergischen Reaktion" aus der 30-tägigen Haft, zu der er am Mittwoch verurteilt wurde, ins Krankenhaus gebracht, wie seine Sprecherin zunächst bei Twitter mitteilte.

Nach Angaben seiner Hausärztin sei er möglicherweise mit Gift in Berührung gekommen, schreibt diese auf Facebook: "Wir können nicht ausschließen, dass seine Haut von einem Gift berührt und von einer unbekannten chemischen Substanz durch einen Dritten verletzt wurde." Demnach litt der prominente Oppositionspolitiker unter geschwollenen Augenlidern und hatte Abszesse an Nacken, Rücken, Rumpf und Ellenbogen. Nawalny habe noch nie eine allergischen Reaktion erlitten, erklärte die Hausärztin nach einem Besuch bei dem Politiker im Krankenhaus. Sie forderte eine Untersuchung der Bettwäsche in seiner Gefängniszelle.

Am Samstag wurden auch die meisten der von der Wahlkommission aussortierten Kandidaten für das Stadtparlament zum Verhör vorgeladen (zum zweiten Mal innerhalb einer Woche) und stundenlang festgehalten: Ljubow Sobol, Julia Galjamina, Ilja Jaschin und Dmitri Gudkow sind die bekanntesten Namen darunter. Gleichzeitig führte die Polizei beim oppositionellen Internetsender TV Rain, der bei den vorigen Aktionen live berichtet hatte, eine Hausdurchsuchung durch. Ziel der Aktion: den Protest führerlos zu machen.

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Rund tausend Festnahmen soll es bei den Demos in Moskau gegeben haben.
Foto: AP / Alexander Zemlianchenko

Auf der zentralen Flaniermeile Twerskaja parkten hunderte Busse seit Samstagvormittag dicht an dicht als Absperrung. Vor dem Rathaus postierten sich Einheiten von Polizei und Nationalgarde. Trotzdem kam es zu Protesten. Laut Polizeiangaben nahmen rund 3.500 Personen daran teil. Die Organisatoren sprechen von 5.000 bis 15.000 Teilnehmern.

Auch Journalisten verletzt

Beispiellos wurde der Samstag allerdings erst durch das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte, die Augenzeugenberichten nach ziemlich wahllos und mit Schlagstöcken gegen die Menge vorging. Verletzt wurden nicht nur Demonstranten, sondern auch Journalisten. Teilweise wurden sogar unbeteiligte Spaziergänger von den Ordnungshütern in den Gefangenentransporter verfrachtet. Das Innenministerium seinerseits klagte darüber, dass zwei Beamte durch Pfefferspray verletzt worden seien.

Das Ministerium spricht offiziell von 1.074 Festnahmen, das zivilgesellschaftliche Medienprojekt "OWD-Info" nennt hingegen die Zahl von 1.373. In jedem Fall ist es die höchste Zahl an Festnahmen in der jüngeren Vergangenheit. Selbst bei den Massendemos gegen Premier Dmitri Medwedew nach der Publikmachung seines Luxuslebens vor zwei Jahren waren es etwas weniger als 1.000. Bei den bisher größten Demonstrationen in der Ära Putin 2012 zur erneuten Amtseinführung des russischen Präsidenten, der zuvor vier Jahre als Premierminister unterwegs war, hatte es sogar nur 400 Festnahmen gegeben.

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Zahlreiche Menschen wurden bei der Demonstration verletzt.
Foto: Reuters / Zhamil Zhumatov

Immerhin wurde der Großteil der Festgesetzten nach einigen Stunden unter Auflagen bis zum Gerichtstermin wieder auf freien Fuß gesetzt. Mehr als 150 Demonstranten verbrachten die Nacht auf dem Revier. Da sich der Protest gegen die Entscheidung der Moskauer Wahlkommission richtet, droht allen Beteiligten ein Verfahren wegen Behinderung der Wahlkommission, was gewöhnlich mit einer Geldstrafe, im schlimmsten Fall aber auch mit fünf Jahren Haft geahndet werden kann.

Die US-Botschafterin in Moskau verurteilte die Polizeigewalt.

Die EU und die USA verurteilten den gewaltsamen Polizeieinsatz am Samstag und beklagten einen Verstoß gegen demokratische Grundrechte.

Neue Demo im August

Die Opposition erklärte bereits, sich nicht einschüchtern lassen zu wollen. Sie fordern nach wie vor die Zulassung ihrer Kandidaten bei der Wahl. Für das erste Augustwochenende haben die Kremlkritiker zur nächsten Demo aufgerufen.

Interessant ist vor allem die Reaktion des Kremls. So demonstrierte die Obrigkeit mit dem Vorgehen der Polizei Härte und Entschlossenheit. Zugleich allerdings tat sie so, als ob nichts vorgefallen sei. Die staatlichen Fernsehnachrichten erwähnten die Ereignisse im Moskauer Zentrum mit keiner Silbe. Stattdessen berichteten die Sender ausführlich davon, wie Präsident Wladimir Putin abtauchte. Der Kremlchef war nämlich am Samstag in einem Tauchboot in der Ostsee unterwegs, um das Wrack eines sowjetischen U-Boots aus dem Zweiten Weltkrieg zu begutachten.

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Auf Wrackbesichtigung: Wladimir Putin.
Foto: Reuters / Sputnik

Auf Nachfragen der Presse begründete er anschließend seine extravaganten Ausflüge unter Wasser, oder im Kampfflugzeug damit, "dass unsere Leute überall arbeiten, in der Luft, unter Wasser und unter der Erde." Um deren Motivation besser zu verstehen, müsse er sich in ihre Lage hineinversetzen. "Auf der Erde gibt es viele Probleme. Um sie zu verringern, muss ich in die Höhe steigen, oder unter Wasser tauchen", konstatierte er. Die Probleme bei der Registrierung von Kandidaten bei der Moskauer Wahl ließ der Kreml hingegen unkommentiert. (André Ballin aus Moskau, red, APA, 29.7.2019)