Szene aus "Die Meistersinger von Nürnberg" bei den diesjährigen Bayreuther Richard-Wagner-Festspielen.

Foto: Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Die Aufgeregtheit des Premierenabends ist verflogen, die Sicherheitsvorkehrungen sind etwas amikal und lässig geworden, und der Grüne Hügel hat sich seine Idylle trotz aller Umtriebigkeit wiedererobert. Bayreuth befindet sich freilich noch immer im Ausnahmezustand, wie von den Einheimischen so gerne gesagt wird. Fanatisch, interessiert, hungrig und diskussionsfreudig findet sich das Publikum jeweils um 16 Uhr zu den Vorstellungen ein, die dank der einstündigen Pausen bis in den (späten) Abend dauern.

Man erwartet eine Sternstunde nach der anderen – und alltäglich wird das Gebotene in der Tat nie. Tag zwei und drei nach der bilderstürmerischen Eröffnungspremiere mit "Tannhäuser" (Der Standard berichtete) hätten kaum gegensätzlicher ausfallen können.

Lose Gedankensplitter gegen schlüssige Abhandlung

Schon ein Blick ins Programmheft offenbart gravierende Unterschiede: In dem einen berichtet der Regisseur von "Lohengrin", wie er für die Vorjahrsproduktion spät ins Team gekommen war, freut sich, nun am Stück weiter arbeiten zu dürfen und breitet einige lose Gedankensplitter aus. Im anderen schreibt sein Pendant eine knappe, doch vollkommen schlüssige Abhandlung über die Problematik der "Meistersinger" und seine dichten Assoziationen zu ihnen. Beides schlug sich unmittelbar auf der Bühne nieder.

Yuval Sharon, der für die Premiere im Vorjahr kurzfristig vor die vollendeten Tatsachen des Ausstattungsduos Neo Rauch und Rosa Loy gestellt worden war und dann nach eigenem Bekunden vor allem den Schock von Donald Trumps Präsidentschaft verarbeiten wollte, konnte auch in der überarbeiteten Version von "Lohengrin" aus dem Setting des von beflügelten Zwitterwesen bevölkerten Umspannwerks keinerlei überzeugende Handlung herausschälen. (Aber wer hätte das gekonnt?)

So blieben kaum mehr einige zusammenhanglose, schön gemalte Landschaftsbilder und ein paar szenische Überspitztheiten hängen, die sich darauf reduzieren lassen, dass das Volk bereit ist, die abstrusesten Muster ihrer Führer nachzumachen, wenn es hinreichend elektrisiert wird. (Das wusste man schon.) Welten liegen zwischen diesem unausgegorenen Machwerk, an dem allerdings der kühne Mut zum Scheitern Bewunderung verdient, und der vor zwei Jahren erstmals gezeigten, tiefschürfenden Auseinandersetzung von Barrie Kosky mit den "Meistersingern von Nürnberg", die seither noch an Intensität gewonnen hat.

Vom Antisemitismus bis zum Nürnberger Prozess

Wie hier der Bogen vom Alltag von Wagners Wahnfried-Welt über die jenseitigen antisemitischen Reflexe des Meisters und die verheerende Rezeptionsgeschichte des Werks zum zweiten Weltkrieg und zu den Nürnberger Prozessen gespannt wird, während sich zugleich die Handlung so detailliert und tiefgreifend wie selten auffächert, ist ein genialer Wurf voller aufrüttelnder Impulse und großer Bildwirkungen, für die der Regisseur ungeheuer genau auf Wagners Musik und Text gehört hat.

Überschießender Witz, tiefe Melancholie und die Ahnung kommender Abgründe – all dies ist aus dem Stück selbst erschlossen. Die beiden Antagonisten sind im Vergleich zur Premiere 2017 nochmals über sich hinausgewachsen: Der von Wagner zu Hans Sachs und wieder zurück mutierende Michael Volle verleiht jedem Wort und Ton unterschiedliches Gewicht oder Leichtigkeit, reflektierte Bedeutung, hemdsärmelige Gutgläubigkeit und Ironie.

Rauschhaft und betörend

Johannes Maria Kränzle gibt den vielschichtigsten Beckmesser, den man sich nur vorstellen kann, voller Verliebtheit und Verschlagenheit, Opfer, Täter, Projektionsfläche der Aversionen und auch Sympathieträger inmitten eines ideal interagierenden Ensembles. Unter anderem bewundernswert am hellstrahlenden, pointierten Klaus Florian Vogt (Stolzing) und an der nobel-souveränen Camilla Nylund (Eva) ist, dass sie am Vorabend noch als Lohengrin und Elsa auf der Bühne standen: unter auch musikalisch gegensätzlichen Bedingungen. Da hatte Christian Thielemann das lange Warten auf den Schwan (der dann nicht zu sehen war) auf der Zauberharfe des Festspielorchesters schillernd vergoldet: rauschhaft und sensualistisch, betörend und überwältigend.

Tags darauf wurde Wagners Traummaschine völlig konträr in Gang gesetzt, denn Philippe Jordan unterstützte die Bedachtheit der Inszenierung mit einem ebenso besonnenen Dirigat, das jeden Bombast und Effekt unter das Zeichen des "Als-Ob" stellte und durch klug gesetzte Zäsuren Raum zum Atem-Holen und Nachdenken schuf.

Pluralistisches Publikum

Dass beiden Ansätzen gleichermaßen applaudiert wurde, zeigt, dass auch das Bayreuther Publikum längst ein pluralistisches ist – ebenso, wie es in einem Moment magnetisiert sein und im nächsten lachen kann. Und so wurde jene ganz kurze Szene am Eröffnungsabend, in der der Transgender-Künstler Le Gateau Chocolat in "Tannhäuser" im Innern das Festspielhaus decouvrierend die aufgesetzte Pose des heurigen "Lohengrin"-Dirigenten verhohnepiepelte, trotz ihrer Flüchtigkeit vielleicht zum bleibendsten Moment der diesjährigen Festspiele. (Daniel Ender, 28.7.2019)