Im Gastkommentar antwortet die Wiener Patientenanwältin Sigrid Pilz Anita Drexler in der Debatte um Adipositas und Akzeptanz von Körpervielfalt.

Der Verein der Selbsthilfegruppen Adipositas Österreich bewirbt auf seiner Homepage prominent die chirurgische Magenverkleinerung als Ausweg aus der Fettleibigkeit, die sie als krankhaft beurteilen. Die Mitglieder wollen schlanker werden, weil sie ganz offenkundig unter ihrer Situation leiden. Von einem Aufruf zur "Fettakzeptanz", zum "Stopp der Körperscham" oder gar von einer Bewerbung der Body-Positivity-Bewegung ist nichts zu lesen. Runter mit dem Gewicht mittels Skalpell ist die zentrale Botschaft. Ist es tatsächlich sinnvoll und gar der Plan, rund einem Drittel der erwachsenen Österreicherinnen und Österreicher die Magen-OP zu empfehlen? So viele von uns sind nämlich von Adipositas oder dem metabolischen Syndrom (bauchbetontes Übergewicht und Begleiterkrankungen) betroffen.

Anita Drexler bringt in ihrem Kommentar der anderen ("Wie dicke Menschen krankgemacht werden")nun einen neuen wichtigen Kritikpunkt in die Debatte ein: Dicke Menschen werden meist auf ihr Aussehen reduziert, oft diskriminiert und entwertet. Auch im Gesundheitswesen wird bisweilen vorschnell Adipositas als Hauptursache für jedwede Erkrankung geortet. Da will ich ihr beipflichten: Vorurteile zurückzuweisen und Schlanksein nicht als das wichtigste Ziel zu definieren ist auch gesellschaftspolitisch dringend notwendig. Die Body-Positivity-Bewegung fordert daher, dass die Ungleichbehandlung und die soziale Ächtung Hochgewichtiger ein Ende haben müssen. Gilt also die Antwort: Dicksein ist okay – daher Schluss mit der Krankrederei?

Diszipliniert essen

Beide Zugänge – die versprochene Erlösung durch die bariatrische Operation einerseits und die Akzeptanz der Körperfülle durch die Body-Positivity-Bewegung andererseits – greifen meines Erachtens zu kurz. Ja, es geht darum, Gesundheit und Lebensfreude in Körpervielfalt zu ermöglichen, aber die Ursachen für die kollektive Gewichtszunahme müssen uns doch interessieren. Wer nämlich meint, Übergewicht lässt sich "wegoperieren", falls es eines Tages zu sehr stört und Diäten fehlschlagen, ist sich oft nicht bewusst, dass er einen sehr riskanten Eingriff vornehmen lässt. Nach der OP muss man für alle Zukunft diszipliniert essen und braucht dauerhaft Nahrungsergänzungsmittel. In der Wiener Patientenanwaltschaft melden sich vermehrt Menschen, die schwere Komplikationen durch die OP oder Folgeerkrankungen erlitten haben. Auch Todesfälle sind vereinzelt zu beklagen.

Die meisten Hochgewichtigen wollen sich diesem Risiko nicht aussetzen. Wer allerdings gelassen auf die Waage steigt und meint, dass er ohnehin zu den "20 Prozent gesunden Dicken" gehört, für die Frau Drexler Entwarnung gibt, hat gute Chancen, leider doch zu den 80 Prozent mit Begleiterkrankungen zu zählen.

Über Ursachen reden

Reden wir also über die Ursachen für die Verdopplung des Anteils der Adipösen seit 1980: Ernährung ist zur extrem profitablen Industrie geworden, hochverarbeitete Lebensmittel (fett, zuckrig/salzig, stärkehaltig) bestimmen die Essgewohnheiten der Menschen in der westlichen Welt und zunehmend auch in armen Regionen. Convenience-Produkte wirken überdies als Appetitanreger und sind zu jeder Zeit und an jeder Ecke als informelle Mahlzeit zu haben. Das macht dick. Die Forschungslage ist – im Widerspruch zu den Äußerungen von Drexler – eindeutig: je mehr Fertigprodukte, umso mehr Übergewicht und kranke Menschen, insbesondere in sozial schwachen Schichten.

Reden wir über die betroffenen Kinder. Hat sie jemand gefragt, ob sie "gerne" dick sind? Kinder sind jedenfalls ein leichtes und lohnendes Ziel für allerlei listige Werbetricks. Die Konzerne investieren riesige Summen für Comics, Onlinespiele und bunte Verpackungen, um ungesunde, dickmachende Essgewohnheiten früh zu etablieren. Auch den Eltern wird vorgemacht, dass der Müsliriegel für "zwischendurch" gesund und wertvoll ist. Dicke Kinder werden aber besonders gehänselt und gemobbt, und es werden immer mehr. Eine Spirale aus Einsamkeit, Ausgrenzung, Rückzug und Frustessen ist oft die Folge. Da wird es nicht helfen, "Fettschämen" gesellschaftspolitisch zu bekämpfen oder gar, wie manche Chirurgen empfehlen, extreme Adipositas schon im Jugendalter zu operieren.

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Gegen Fat Shaming vorzugehen ist wichtig. Gleichfalls aber gilt es, ungesunde Ernährung wie Junk- und Convenience Food als Problem zu benennen.
Foto: Getty Images/Tara Moore

Problem Junkfood

Kinder haben ein Recht auf ein gesundes Aufwachsen, ihre Gelenke und Organe sollen sich entwickeln können. Es muss daher endlich politisch bekämpft werden, was sie daran hindert: verführerische Werbung für krankmachendes Essen, billiges Junkfood (Nimm drei, zahl zwei), und es müssen dringend fehlende Bewegungsräume im Alltagsleben geschaffen werden. Wir müssen alles tun, damit die gesunde Wahl für alle sozialen Gruppen auch die einfache, die kostengünstige Wahl werden kann.

Im Supermarkt treffe ich oft auf ein Elternpaar, beide extrem hochgewichtig, im Einkaufswagen sitzt ihr Kleinkind zwischen Limonadengebinden, Fertigpizzen und süßen Cerealien. Die "Drüsen" sind offenkundig nicht die Ursache für die Adipositas. Auch der Bub hat "Babyspeck", es spricht nichts dafür, dass sich das "auswachsen" wird. Vertreter der Body-Positivity-Bewegung halten es für übergriffig und unzulässig, wenn die Essgewohnheiten Hochgewichtiger ungefragt kritisiert werden. Wenn es um das Kindeswohl geht, ist diese Zurückhaltung wohl nicht angebracht! Vielleicht fragt der junge Mann eines Tages, wer eigentlich alles tatenlos zugesehen hat, statt seinen Eltern Auswege zu öffnen. Und warum er schon als kleiner Bub mit Junkfood, dessen Produktion und Bewerbung niemand reglementiert hat, um seine gesunde Zukunft gebracht wurde. (Sigrid Pilz, 30.7.2019)