Evgeny Titov lehnt ausnahmsweise entspannt an der Wand. Für Ruheposen fand der Regisseur aber kaum Gelegenheit, seit er im Mai kurzfristig die Regie für "Sommergäste" übernommen hatte.

Foto: Anne Zeuner

Manchmal betet Evgeny Titov zum Regie-Gott. Auch wenn da oben eh keiner sitzt, weder mit Efeukranz noch Krummstab, der sich um die irdischen Theaterprobleme schert. Egal. Es hilft trotzdem, wenn man in schlaflosen Nächten jemanden um die Lösung des Problems im dritten Akt anflehen kann. Bei Evgeny Titov war das gerade der Fall. Der 38-jährige Regisseur aus Kasachstan absolviert am letzten Julitag mit Maxim Gorkis Sommergästen sein Debüt bei den Salzburger Festspielen.

Dass er hier inszenieren wird, weiß Titov erst seit zwei Monaten, als Mateja Koleznik aus gesundheitlichen Gründen ihre Regiearbeit zurückgelegt hatte. Da war das Bühnenbild schon fertig. Titov hat einen Weg gefunden, die Sache ganz zur eigenen zu machen. "Das ist jetzt meins", sagt er enthusiastisch, aber ausgehungert zwischen zwei Probenblöcken am Nachmittag auf der Perner-Insel. Für Essen ist kaum Zeit, Zigaretten reichen auch. Sommergäste, Gorkis Drama (1904) um das Unbehagen einer saturierten Gesellschaft, die den Wind der kommenden Revolution schon in den Knochen spürt, ist also Titovs Feuertaufe.

Die poetischen Russen!

Den Druck, der jetzt auf ihm lastet, gilt es zu ignorieren. Geht nicht immer. Aber eigentlich herrscht bei Titov sowieso regelmäßig Krise. Aus der Komfortzone oder aus der Sicherheit heraus zu arbeiten, das lehnt er entschieden ab. Es sprudelt nur so aus ihm heraus, wenn er sich erklärt. Meist in Metaphern und nur in halben Sätzen, weil er denkt, das bloß Gedachte teile sich im Raum ebenso mit wie das Gesagte. Oh, ihr poetischen Russen!

Fast wie eine mathematische Gleichung schildert Titov den Kampf mit dem Text. "Wenn du die Materie angreifst, dann schlägt sie zurück, sie greift dich dann auch an!" Und manchmal geht ihm das so an die Nieren, dass er über einen Berufswechsel nachdenkt. Das darf man aber getrost unter temporärer Schöpferpanik verzeichnen. Denn Evgeny Titov ist, wie man so schön sagt: Theatermensch durch und durch.

Petersburger Jahre

Das Theater hat ihn gepackt, als er als Architekturstudent in Nowosibirsk eher durch Zufall einmal im Theater saß. Es war erst der dritte oder vierte Theaterbesuch seines Lebens, und dieser hat ihn regelrecht fortgerissen – und zwar gleich an die Theaterakademie Sankt Petersburg. Für einen jungen Menschen aus der Provinz in Ust-Kamenogorsk ist das der unerreichbare Olymp. Es gibt 150 Bewerber pro Studienplatz. Mit 50 Dollar in der Tasche ging es dann durch das Russland anno 1998. Titov hat den Platz gekriegt.

Nach der Schauspielausbildung in Sankt Petersburg studierte Titov am Max-Reinhardt-Seminar in Wien und ließ schon mit seiner Diplominszenierung von Copis Schlangennest, die 2015 am Akademietheater gastierte, durchblicken, dass hier ein Talent in den Startlöchern steht.

Apropos Talent. Evgeny Titov weiß, dass Talent nicht ewig währt, sondern dass es auch wieder verschwinden kann. "Wir können Talent nicht unendlich ausschöpfen, es gibt ein Limit", sagt er. Irgendwann hätten auch die größten Regisseure nicht mehr die Kapazitäten und wiederholen sich nur. Titov aber steht jetzt in seiner blühenden Zeit und voll am Drücker. Für ihn herrscht derzeit immer Ausnahmezustand. Theater ist sein Lebensmotor. Was soll ich ohne Theater machen?, fragt er entwaffnend ehrlich. "Wenn ich kein Theater mache, klingelt das Telefon oft wochenlang nicht." Zum Glück gibt es da Freunde, die den leidenschaftlichen Regisseur immer wieder runterholen und ihm nahelegen, den Beruf alltagstauglich anzulegen. Das wird aber noch dauern.

Nächste Station: Oper

2020 gibt Titov sein Operndebüt am Hessischen Staatstheater Wiesbaden, 2021 folgt dann die Komische Oper in Berlin, seiner derzeitigen Heimatstadt; hier ist er auch Dozent an der Ernst-Busch-Schule. Die Oper zieht Titov an, "weil sie noch breiter, noch größer, noch internationaler ist" als das Sprechtheater. Seine Grenzen zu suchen, darin sieht der hochenergetische Regisseur die Aufgabe der Kunst. Seine Arbeiten sind deshalb formstark, das Gegenteil von Fernsehrealismus: von einem radikalen Blickwinkel herrührende Überformungen. Echter Schmerz: ja! Die leidende russische Seele hat er definitiv nach Europa mitgebracht.

Titov scheint neben Ulrich Rasche und Susanne Kennedy einer zu sein, der das Ende der Ironie am deutschsprachigen Theater markiert. Er glaubt wieder an die intensive Auseinandersetzung und höhere Emotionalität. Das muss nicht gleich Pathos sein. Der neue Ernst des tiefen Gefühls? Ja! Darin ist Titov seiner Vorgängerin Koleznik sehr ähnlich.

Wie geht's weiter? In der theaterlosen Zeit hat Evgeny Titov ein Theaterstück geschrieben, das aufführungsbereit ist. Er selbst hat dafür momentan keine Zeit. Vielleicht entsinnt sich auch ein gewisser Martin Kusej seines einstigen Studenten? Die Chancen stehen gar nicht schlecht. (Margarete Affenzeller, 31.7.2019)