Soziologe Roland Girtler schätz das Leben auf dem Land und in der Stadt: "Will ich Kontakt mit Menschen, bin ich in Spital am Pyhrn. Will ich mich verstecken, bleib ich in Wien."

Foto: Andy Urban

STANDARD: Sie sind passionierter Fußgänger und Radfahrer – wo sind Sie lieber unterwegs: in der Stadt oder auf dem Land?

Girtler: Beides hat seinen Reiz. In der Stadt sehe ich viele Leute, da habe ich die Abwechslung. Und auf dem Land kann ich mich erholen. Aber moderne Städte wie Wien verbinden beides. Und der Mensch braucht auch beides – Stadt und Land.

STANDARD: Man hat aber dennoch das Gefühl, dass sich insbesondere junge Menschen verstärkt das Landleben in die Stadt holen: Im Vorgarten gackern die Hühner, im Hochbeet gedeiht das Gemüse – wie erklären Sie dieses Phänomen?

Girtler: Weil einfach beide Lebensformen etwas Faszinierendes haben. In der Stadt kann ich meine Bedürfnisse schnell befriedigen, was auf dem Land eben nicht so flott geht. Da haben Sie heute meist nicht einmal mehr einen Friseur. Schon in der Antike hat es die Menschen in die Städte gezogen. Man genießt auch die Anonymität. In der Stadt brauch ich niemanden zu grüßen, was auf dem Land unmöglich ist. Und doch mag auch der Städter diese ländliche Eigenständigkeit: die Freiheit, Herr am eigenen Acker zu sein. Auch wenn der meist nur ein Gemüsekistl auf dem Balkon ist.

STANDARD: Dennoch schätzt man auch in der Großstadt überschaubare Strukturen. Da gibt es im Grätzel den Lieblingsbäcker, den Greißler, das Stammlokal. Überfordert diese urbane Großzügigkeit auf Dauer?

Girtler: Nein. Warum soll es in der Stadt diese Orte der Gemeinschaft nicht geben. Man nimmt halt die Vorteile des Landlebens mit. Das Land wird in die Stadt gezogen, die Probleme bleiben draußen. Bei den Eskimos war es so, dass die Männer eine Zeit herumgezogen sind – alleine zur Jagd. Sonst haben die auf engstem Raum gemeinsam gelebt, und dann eben die Phasen der Einsamkeit. Heute ist es nicht anders: einerseits der enge Kontakt zu anderen in der Stadt, dann zieht es die Menschen aufs Land, um alleine zu sein.

STANDARD: Aber ist es nicht eigentlich eine Illusion: Nur ein paar Meter vor dem Haus bleibt die U-Bahn stehen, die dann zum nächsten Supermarkt, zum Theater und zur schicken Bar fährt. Und hinter dem Haus sind die Hühner unglaublich glücklich.

Girtler: Natürlich ist das Fantasterei. Da wird in der Stadt Landleben gespielt. Aber warum auch nicht. So ist der Mensch eben. Und es schadet niemandem. Da kann ich auch am Donaukanal ein Blumenkistl hinstellen und Salat anpflanzen. Das ist doch nett.

In der Stadt und doch im Grünen: Auch im neuen Wiener Stadtteil Seestadt Aspern sollen sich Urbanität und Landleben vermischen.
Foto: Robert Newald

STANDARD: Gibt es heute überhaupt noch typische Stadtmenschen und Landmenschen?

Girtler: Wir erleben natürlich heute eine Verstädterung. Und das Landleben ist geprägt von alten Menschen. Im Waldviertel ist unter der Woche nichts los. Die jungen Leute ziehen in die Stadt – und nur am Wochenende aufs Land. Da ist es dann lustig. Was aber deutlich macht, dass es die alte bäuerliche Kultur nicht mehr gibt. Aufs Land zu fahren macht Freude, aber dauernd auf dem Land zu leben ist nichts.

STANDARD: Gibt es diese Grenzen im Kopf noch – Landei versus großkopferte Wiener?

Girtler: Natürlich. Aber nur um den anderen zu ärgern. Den eigentlichen Wiener gibt es ja gar nicht. Wien ist ja die zweitgrößte Stadt von Oberösterreich. Wien ist voll von Oberösterreichern. Oder Vorarlbergern und Kärntnern.

STANDARD: Sie leben ja auch zwischen den Welten: Geboren in Wien, aufgewachsen in Spital am Pyhrn, pendeln Sie heute noch zwischen Großstadthektik und Wildererromantik hin und her. Brauchen Sie diese Abwechslung?

Girtler: Das ist doch wunderbar. Will ich Kontakt mit Menschen, bin ich in Spital am Pyhrn. Will ich mich verstecken, bleib ich in Wien. Ich bin gebürtiger Ottakringer, mein Vater wollte aber Landarzt werden. So sind wir nach Spital am Pyhrn gekommen.

STANDARD: Manch einer meint, das Stadtleben ist auf Dauer stressig und ungesund.

Girtler: Das stimmt doch so nicht. Und keiner lebt immer in der Stadt. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt man ja schon Stadt und Land zu verbinden. Der Alpenverein wurde von Wienern gegründet, und die besten Kletterer kommen aus Wien.

STANDARD: Wo sehen Sie nun konkret die Chancen in der Provinz?

Girtler: Chancen auf dem Land habe ich nur dann, wenn ich mobil bin. In der Stadt kann ich auf alle Fälle besser überleben. Es gibt Wohnmöglichkeiten, Arbeitsplätze. Aber wenn ich ein Auto habe, kann ich wohl auch in Hollabrunn überleben. (Markus Rohrhofer, 31.7.2019)