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Blumen, Luftballons und Plüschtiere am Frankfurter Hauptbahnhof: Die Trauer nach dem Tod eines achtjährigen Buben ist in Deutschland groß.

Foto: AP / Michael Probst

Wädenswil wird im Volksmund "Wädi" genannt. In Frankfurt, knapp 450 Kilometer und ein Land entfernt, weiß das kein Mensch. Und niemand weiß in der hessischen Metropole am Montagvormittag, dass fünf Tage zuvor in Wädenswil, der 20.000-Einwohner-Stadt im Schweizer Kanton Zürich, der 40 Jahre alte gebürtige Eritreer A. seine Frau und seine drei kleinen Kinder in der gemeinsamen Wohnung eingeschlossen hat, außerdem eine Nachbarin bedroht, die A.s Familie zu Hilfe gekommen ist.

Und erst recht weiß niemand in Frankfurt und auch nirgendwo sonst in Deutschland, dass A. – als die von dessen Ehefrau zu Hilfe gerufene Kantonspolizei Zürich ankommt – verschwunden ist. Denn die Kantonspolizei schreibt A. zwar umgehend zur Festnahme aus – aber nicht öffentlich. Und nur im Fahndungssystem der Schweiz. "Es gab", sagt am Dienstagnachmittag Werner Schmid, Chef der Regionalpolizei, "ganz klar keinen Anlass für eine internationale Ausschreibung".

Polizei kannte Vorgeschichte nicht

Als Schmids Kollegen von der Polizei Frankfurt am Main am Montagnachmittag "Tötungsdelikt" twittern und Zeugen suchen für die Tat, die sich am Vormittag auf dem dortigen Hauptbahnhof zugetragen hat, ist zwar der mutmaßliche Täter gefasst, aber von dessen Vorgeschichte wissen sie nichts.

Der Mann stößt um 9.59 Uhr eine 40 Jahre alte Frau und ihren achtjährigen Sohn vom Bahnsteig 7 ins Gleisbett, direkt vor den einfahrenden ICE 529. Die Mutter kann sich wegrollen, das Kind aber wird vom Zug überrollt und stirbt auf den Gleisen. Eine 78 Jahre alte Frau, die der Täter in derselben Art angreift, kommt noch auf dem Bahnsteig zu Fall. Als der Mann flieht, setzen ihm Passanten nach, darunter ein Polizist in Zivil – und stellen ihn außerhalb des Bahnhofs.

In der Schweiz gesucht

Am Dienstag erfährt die Öffentlichkeit: Der mutmaßliche Mörder von Frankfurt ist Herr A. aus Wädenswil, der Mann, der Frau, Kinder und Nachbarin bedroht hat. Und nach dem die Kantonspolizei sucht. Wegen "häuslicher Gewalt".

Kurz vor Mittag am Montag hat die Polizeidirektion Frankfurt den Schweizer Kollegen ein Ermittlungsersuchen übermittelt. Am Dienstagnachmittag müssen sie sich bei einer Pressekonferenz in Zürich bohrenden Fragen stellen. Warum haben sie die Schweizer Öffentlichkeit nicht von der Fahndung nach A. informiert? Warum nicht die Schengen-Staaten?

2006 eingereist

Bis Donnerstag, sagt die Kantonspolizei, war A. ein unbescholtener Mann. Einzig "wegen eines geringfügigen Verkehrsdelikts" überhaupt polizeibekannt. 2006 ist der gebürtige Eritreer eingereist, 2011 hat er eine Niederlassungsbewilligung der Kategorie C erhalten. Er ist verheiratet, seine drei Kinder sind ein, drei und vier Jahre aIt. Bis Jänner 2019 hat er gearbeitet, bei den VBZ, den Verkehrsbetrieben Zürich. Seither nicht; er ist "wegen psychischer Probleme krankgeschrieben". In Berlin sagen fast genau zur selben Zeit der deutsche Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und der Chef der Bundespolizei, Dieter Romann, A. sei eine Art Musterexemplar von Asylbewerber gewesen: "gut integriert" und "aus Sicht der Ausländer- und Asylbehörde vorbildlich".

Am Donnerstag vergangener Woche aber sagen A.s Ehefrau und die Nachbarin der Polizei "übereinstimmend, dass sie ihn noch nie so erlebt hätten". Und dass A.s "Gewaltausbruch für sie völlig überraschend" gekommen sei. A. hat die Nachbarin vor dem Einschließen bedroht, mit Worten und mit einem Messer. In Berlin sagt Polizeichef Romann, er habe die Frau auch gewürgt. Sie und A.s Ehefrau berichten der Kantonspolizei noch am Donnerstag, dass A. seit 2019 "in psychiatrischer Behandlung" sei.

"Die üblichen Maßnahmen"

Die Kantonspolizei befindet dennoch: Interne Fahndung genügt. Regionalpolizei-Chef Schmid erklärt das so: "Täglich gibt es im Kanton Zürich rund ein dutzendmal Gewalt im Nahumfeld." Und: "Es wurden die üblichen Maßnahmen getroffen."

Die üblichen Maßnahmen führen dazu, dass A. nach Deutschland einreist. Weil die Schweizer Polizei "keine Anhaltspunkte" sah, dass A. "sich ins Ausland absetzen könnte". Und, wie Bundespolizeichef Romann annimmt, unkontrolliert. Weil es "an der Grenze zur Schweiz keine regulären Kontrollen" gibt.

Bis Dienstagnachmittag weiß die Kantonspolizei "noch nicht, wo er war, wie er nach Deutschland kam, mit wem er Kontakt hatte". A. nämlich macht keine Angaben. Auch nicht zum Motiv, sagt in Berlin Romann. "Nicht bis zur Stunde", ergänzt Innenminister Seehofer.

AfD fordert "Kehrtwende"

Fast zur selben Zeit muss in Frankfurt der Ermittlungsrichter über die gegen A. beantragte Untersuchungshaft wegen Mordes und zweifachen Mordversuchs entscheiden. Für die Öffentlichkeit ist A. da längst verurteilt. Und für manche nicht nur er. Am Montagabend twittert die AfD-Fraktionschefin im Bundestag, Alice Weidel: "Während ganz Deutschland trauert, hebt #Merkel ohne ein Wort der Anteilnahme in den Urlaub ab." Am Dienstagmorgen schiebt der sich als gemäßigt verstehende AfD-Landeschef von Berlin, Georg Pazderski, nach: "Der tote Achtjährige vom Frankfurter Hauptbahnhof ist ein Fanal und muss die lange überfällige sicherheitspolitische Kehrtwende auslösen."

Anders als von der AfD insinuiert, reagiert die Bundesregierung rasch. Seehofer – der 2015 als Regierungschef von Bayern im Urlaub noch nicht einmal ans Handy ging, als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ihn wegen der Flüchtlinge in Ungarn kontaktieren wollte – unterbricht seine Ferien. Trifft in Berlin die Chefs der Sicherheitsbehörden – und redet danach von der "moralischen Verantwortung, das Menschenmögliche zu tun", um solche Taten zu verhindern.

Fast zur selben Zeit beteuert in der Schweiz die Polizei, sie habe im Fall A. genau das getan.(Cornelie Barthelme aus Berlin, 30.7.2019)