Der vor 50 Jahren in der Schweiz verstorbene Philosoph Theodor W. Adorno hatte vielfältige Verbindungen nach Wien. Adorno hatte im Jahr 1925 bei Alban Berg studiert und kehrte in den 1960er-Jahren immer wieder für Vorträge nach Wien zurück. Die Österreichische Mediathek – vormals Österreichische Phonothek – hat diese Veranstaltungen in den 1960ern auf Tonband aufgezeichnet. Die mittlerweile digitalisierten Originalaufnahmen können online nachgehört werden.

Vortragsmitschnitte von Theodor Adorno.
Foto: Österreichische Mediathek, Kapeller

Adorno zu Gast in Wien

Insgesamt sechs Vorträge aus den Jahren 1966 und 1967 wurden akustisch dokumentiert. Im Mai 1966 war Theodor W. Adorno bei mehreren Veranstaltungen in Wien zu Gast. Neben einer Lesung aus seinem neu erschienen Buch "Negative Dialektik" und einer Podiumsdiskussion referierte er auf Einladung der Gesellschaft für Literatur im Palais Palffy über das Thema "Funktionalismus heute". Dieser Vortrag wurde von der Österreichischen Phonothek mitgeschnitten.

Von einer weiteren Vortragsserie aus dem April 1967 sind drei Originalaufnahmen erhalten. Am Mittwoch, dem 5. April 1967 referierte Adorno auf Einladung des VSSTÖ an der Universität Wien "Zum Problem des sozialen Konflikts heute". Der Vortrag wurde später überarbeitet und publiziert. Am Tag darauf sprach er über "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus". Dieser lange Zeit unpubliziert gebliebene Vortrag wurde im Juli 2019 neu in Buchform herausgegeben. Einige Tage später folgte ein weiterer Vortrag auf Einladung der Gesellschaft für Musik über Alban Berg, welcher später ebenfalls schriftlich publiziert wurde.  

Originalmitschnitt "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus".
Foto: Österreichische Mediathek, Kapeller

Bereits im Herbst 1967 war Adorno wieder zu Gast in Wien. Am 10. Oktober sprach Adorno im Rahmen einer vom Philosophieinstitut und der Wiener Urania organisierten Veranstaltungsreihe zu "Philosophie und Gesellschaft" über "Anmerkungen zum philosophischen Denken", eine Woche darauf referierte er erneut auf Einladung des VSSTÖ als Gastredner über "Sexualtabus und Recht heute" im Rahmen einer Informationsveranstaltung mit dem Titel "Sexualität ist nicht pervers".

Akustische Zeitdokumentation: Vorträge, Lesungen und Diskussion

Die über 3000 Mitschnitte, die zwischen 1965 und 2000 aufgenommen wurden, stellen eine umfassende Mediendokumentation zur Österreichischen Kulturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Die einzigartigen Quellen, die abseits der öffentlichen Medienproduktion zu archivarischen Zwecken erstellt wurden, machen – digital gesichert und langzeitarchiviert – österreichische Literatur- Politik- und Wissenschaftsgeschichte hör- und erfahrbar. Viele der Aufnahmen sind auch online verfügbar. Die Sammlung ist seit 2016 auch Teil des österreichischen Registers des Unesco-Dokumentenerbes "Memory of Austria".

Adorno verstarb am 6. August 1969.
Foto: dpa/apa

Die Stimme Adornos – Jenseits der Gutenberg-Galaxis?

Die in den 1960er-Jahren begonnene akustische Dokumentation von wissenschaftlichen Vorträgen war auch ein Versuch, Medienquellen jenseits der rein schriftlichen Überlieferung zu produzieren. Adorno selbst beschäftigte sich – durchaus kritisch – mit der Rolle neuer Medien in unserer Gesellschaft. Auch 50 Jahre nach Adorno bedeutet wissenschaftliche Produktion oftmals Textproduktion von schriftlichen Quellen aus schriftlichen Quellen. Dies spiegelt jedoch nicht die mediale Realität der letzten 50 Jahre wider. Der audiovisuellen Überlieferung kommt hier eine besondere Bedeutung zu. Adorno zu hören, ermöglicht andere Zugänge zu seinen nach wie vor aktuellen Gedanken als es die rein schriftliche Beschäftigung mit seinen Thesen vermag. Zu diesen neuen Erkenntnissen möchte auch die dauerhafte Onlineverfügbarkeit der historischen Vorträge Adornos beitragen. (Johannes Kapeller, 6.8.2019)

Johannes Kapeller ist Kommunikationswissenschaftler und Medienarchivar in der Österreichischen Mediathek in Wien.

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