Polizeieinsatz in Wien.

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Wien – "Ich wollte sie verletzen, damit sie den Weg freigeben. Sie waren einfach im Weg." Das ist die einzige Erklärung, die der angeklagte Rene R. dem Geschworenengericht unter Vorsitz von Thomas Kreuter liefern kann, warum er am 6. Februar seinen Vater und seine Mutter in deren Wohnung niedergestochen und lebensgefährlich verletzt hat. Dass er sie, wie angeklagt, ermorden wollte, streitet der 48-Jährige dagegen ab.

Wobei – das Verletzungsbild der Opfer spricht eher für die Sicht der Staatsanwaltschaft. R.s Vater erlitt mindestens drei Stiche in Oberkörper und Kopf, auch die Mutter wurde am Kopf verletzt. Den ersten Polizisten, die zum Tatort kamen, verriet R. laut Aktenvermerk noch, er wollte sich und seine Eltern aus jahrelang aufgestautem Hass umbringen. Vor Gericht kann sich der Angeklagte nicht mehr daran erinnern, das gesagt zu haben.

Computerspielender Einzelgänger

"Ich bin das, was die Gesellschaft einen Einzelgänger nennt. Ich habe auch Probleme, meine Gefühle auszudrücken", beschreibt sich der Angestellte selbst. Er lebte allein, seine Freizeit verbrachte er primär mit Computerspielen – fünf bis sechs Stunden am Tag saß er vor dem Monitor, erzählte er dem psychiatrischen Sachverständigen Peter Hofmann.

48-Jähriger wegen versuchten Mordes an Eltern vor Gericht – sieben Jahre Haft.
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"Ihm ist die Familie sehr wichtig", betont andererseits seine Verteidigerin Astrid Wagner. Seinen Eltern gab er jeden Monat 500 Euro, auch seinem Neffen richtete er Sparbücher ein. Sein ganzes Leben habe er sich nichts zuschulden kommen lassen, unterstreicht Wagner: Die Tat "macht ratlos", fasst sie zusammen.

"Wie Nadelstiche gegen den Augapfel"

Wie kommt es also dazu, dass ein von einer Zeugin als "netter Mann" beschriebener Unbescholtener seine Eltern töten will? Seine Augenschmerzen seien schuld, sagt der Angeklagte. "Es hat im Jänner begonnen, es war ein Gefühl wie Nadelstiche gegen den Augapfel", beschreibt er. Die Schmerzen wurden immer ärger, er konnte nicht mehr schlafen und musste zwei Wochen in den Krankenstand. Niedergelassene und Spitalsärzte, die er aufsuchte, diagnostizierten "trockene Augen" und "Bindehautentzündung", verschrieben Tropfen und Antibiotika, die nichts am Zustand änderten.

Erst am 5. Februar sagte ihm ein Wahlarzt, dass das linke Auge organisch völlig gesund sei. Es müsse sich entweder um ein psychosomatisches Geschehen handeln oder um Folgen von Muskelverspannungen. "Die Diagnose war ein Schlag ins Gesicht", berichtet R., kann aber nicht erklären, was ihn daran eigentlich so gestört hat.

Gedanke an Suizid

In der Nacht nach der Diagnose lag er schlaflos und grübelnd im Bett. Er habe erstmals an Selbstmord gedacht. Und daran, dass er dann auch seine Eltern töten müsse. "Wenn ich mir was antue, dann ihnen auch", rekapituliert er vor Gericht. Und betont gleichzeitig, dass das nur "ein Gedanke" gewesen sei; als er sich am nächsten Tag mit seinem Vater traf und in die elterliche Wohnung fuhr, sei von Mord und Suizid keine Rede mehr gewesen.

Was nicht ganz stimmt – nach einem längeren Gespräch mit den Eltern müssen seine Aussagen bezüglich Selbstmord so alarmierend geklungen haben, dass die Mutter R.s Schwester anrief und der Vater verhindern wollte, dass der Angeklagte die Wohnung verlässt.

"Dann war der Aussetzer. Der Blackout", weist R. bedauernd auf die angeblich fehlende Erinnerung hin. Er habe aus der Küche zwei Messer geholt, um sich den Weg freizumachen. Er sei aufgrund der ständigen starken Schmerzen und des Schlafmangels in einem Ausnahmezustand gewesen: "Man wandelt herum wie ein Zombie", versucht er den Laienrichterinnen und -richtern klarzumachen.

Staatsanwaltschaft genehmigte Durchsuchung nicht

Einer der alarmierten Polizisten macht eine interessante Bemerkung. Demnach habe der Angeklagte direkt am Tatort auch erwähnt, er habe bereits zwei Messer von daheim mit ins Auto genommen. "Und wurden diese Messer gefunden?", will eine Geschworene wissen. "Meines Wissens wollte die Kripo den Wagen durchsuchen, aber die Staatsanwaltschaft hat es nicht genehmigt", lautet die überraschende Antwort des Beamten.

Noch viel überraschender ist, was R.s Vater als Zeuge angibt. Er sagt nämlich, dass er selbst an seinen Verletzungen schuld sein könnte, da er seinem Sohn damals die Messer wegnehmen wollte. "Sie haben aber mindestens drei Wunden", wundert sich der Vorsitzende. Der Vater bleibt dabei: "Es ist möglich, dass ich beim Messer angekommen bin." Mordabsichten des Sohnes bestreitet er vehement. Und überhaupt: "Der Bua ghört ja nicht hierher, der ghört behandelt! Psychisch!", ist der 73-Jährige überzeugt.

Sachverständiger sieht Zurechnungsfähigkeit

Der psychiatrische Sachverständige Hofmann sieht dafür keinen Anlass. R. sei zurechnungsfähig, weise aber eine "sehr spezielle Persönlichkeitskonstellation auf", nämlich eine schizoide. Das mache ihn zum Eigenbrötler, der allerdings kein Problem damit habe. Die Augenschmerzen hätten aber wohl auf seine Persönlichkeit Auswirkungen gehabt, Angst vor dem Jobverlust habe auch eine Depression ausgelöst. Die Schmerzen verschwanden übrigens in der Untersuchungshaft, nachdem R. ein neues Medikament verschrieben bekommen hatte.

Die Geschworenen glauben dem Angeklagten seinen Ausnahmezustand: Sie verurteilen ihn einstimmig wegen versuchten Totschlags am Vater und schwerer Körperverletzung der Mutter. Die nicht rechtskräftige Strafe lautet bei einem Rahmen von fünf bis zehn Jahren auf sieben Jahre Haft. (Michael Möseneder, 1.8.2019)