Michael Enzinger, Präsident der Wiener Rechtsanwaltskammer, beklagt längere Wartezeiten auf Verhandlungen.

Foto: hendrich

Der Präsident des Oberlandesgerichts Wien, Gerhard Jelinek, sieht einen jährlichen Finanzbedarf im dreistelligen Millionenbereich.

Foto: apa

Wien – Seit ein Bezirksgericht in Niederösterreich den Notfallmodus ausgerufen hat, mehren sich die Stimmen über personelle Mängel in weiten Teilen der österreichischen Justiz. Stirbt die Justiz einen stillen Tod, wie Justizminister Clemens Jabloner zuletzt sagte? Mehr Gerichte als früher seien jedenfalls nicht in der Lage, zeitnah Verhandlungen auszuschreiben, beklagt Michael Enzinger, Präsident der Wiener Rechtsanwaltskammer, im STANDARD-Gespräch. "Wartezeiten für Verhandlungen haben sich verlängert", sagt Enzinger. Es komme vor, dass man in Zivilsachen sechs bis acht Monate auf eine Verhandlung warten müsse.

Die Möglichkeiten der Digitalisierung würden in Pilotprojekten, aber noch nicht flächendeckend genutzt, damit habe das Finanzministerium aber immer den Sparstift in der Justiz begründet. "Richter können nur so schnell agieren, wie der Apparat im Backoffice arbeiten kann. Das Backoffice ist aber ausgedünnt", sagt Enzinger.

Warten auf Digitalisierung

Ebendiese personellen Lücken würden wiederum dazu führen, dass es in Sachen Digitalisierung der Justiz zu einer Verzögerung komme, sagt auch Gerhard Jelinek, Präsident des Oberlandesgerichts Wien. Jelinek geht im gesamten Justizbereich von einem jährlichen Finanzbedarf im dreistelligen Millionenbereich aus. Auch Gebäudesanierungen seien derzeit unfinanzierbar.

Er befürchte, dass die Fehleranfälligkeit bei der Erfassung von Klagen, bei der Anberaumung von Verhandlungen steige, "dass richterliche Entscheidungen verzögert aus- und abgefertigt werden", sagt Jelinek. Der Ruf der heimischen Justiz stehe auf dem Spiel.

Die Bezirksgerichte in Österreich sind unter anderem für Familienrechtssachen, kleinere Strafsachen und das Grundbuch zuständig. Kurz nach dem Aufschrei, sie hätten zu wenig Personal, hieß es auch aus den Straflandesgerichten, insbesondere jenem in Wien, es fehle an Personal und räumlichen Ressourcen. Das Bundesverwaltungsgericht gilt aufgrund von Rückständen bei Asyl-Causen ebenso als überlastet.

Alles gesagt

Justizminister Clemens Jabloner will zur Diskussion über die Justiz nichts mehr beitragen – er habe bereits gesagt, was er zu sagen hatte, lässt er am Donnerstag sinngemäß ausrichten.

Im Justizministerium verweist man darauf, dass der Finanzminister versichert habe, dass die Geldmittel fürs heurige Jahr sicher gestellt seien. Alles andere müsse dann in den Budgetverhandlungen für 2020 vereinbart werden. Die Klagen, die allenthalben aus der Justiz kommen, seien nicht überzogen, ist aus dem Ministerium zu hören. Dass die "Probleme und Baustellen" so groß werden konnten, sei den letzten Regierungen bzw. Justizministern zuzuschreiben.

Die nächste Regierung müsse das Justizressort jemandem überantworten, der durchschlagskräftiger sei und über ein besseres Standing innerhalb der Regierung verfüge – vorausgesetzt, man wolle die Justiz besser ausstatten. Die nächste Regierung müsse sich eben überlegen, was ihr die Justiz wert sei. Und dürfe sich nicht auf "Leuchtturmprojekte mit Luftballon-Charakter" konzentrieren, wozu der Beamte etwa jene Rechtsbereinigung zählt, mit der die türkis-baue Regierung rechtliche Bestimmungen abgeschafft hat, die sowieso längst nicht mehr in Gebrauch standen, um es flapsig auszudrücken.

Dieter Böhmdorfer, der von 2000 bis 2004 unter Schwarz-Blau Justizminister auf einem FPÖ-Ticket war, sieht wiederum die Probleme als hausgemacht an: Jede Überprüfung von außen werde in der Justiz mit dem "Killerargument", die Freiheit der Richter und Staatsanwälte sei in Gefahr, im Keim erstickt. Die Freiheit der Justiz bliebe durch externe Wirtschaftsprüfer aber erhalten, betont Böhmdorfer.

Parteien formulieren Appell

Auch unter seiner Ägide gab es Beschwerden von der Richtervereinigung über akuten Personalmangel. Er sah darin eine "Polemik", die das Kanzleramt betreffe. Er glaubt, Verbesserungen im Arbeitsablauf könnten nicht von den Richtern selbst, sondern nur von unabhängigen Sachverständigen erarbeitet werden. Solange dies nicht geschehe, übernehme die Justiz laut Böhmdorfer "eine Mitverantwortung für ihren stillen Tod".

Vertreter der Parlamentsparteien haben am Donnerstag aufgrund der Personalknappheit in der Justiz an die nächste Regierung appelliert, für eine bessere Ausstattung zu sorgen. SPÖ und Neos forderten insbesondere ausreichend Personal. Die Liste Jetzt will der ÖVP das Justizressort nicht mehr geben. Die FPÖ will einen Kassasturz schon unter der jetzigen Übergangsregierung. (gra, lalo, mue, spri, pm)

"Mäßigkeit" zählt zwar zu den vier Kardinaltugenden der Justitia. Der rigorose Sparkurs der letzten Jahre geht dem Justizsystem aber bereits hart an die Substanz.
Foto: APA/HERBERT PFARRHOFER

Die drei größten Baustellen im Justizbereich im Überblick:

  • Personalmangel an den Gerichten:

Das anhaltende Sparen im Justizbereich hat schon vergangenes Jahr für massiven Protest der Richterschaft wie auch der Staatsanwältinnen und -anwälte gesorgt. An der Grundproblematik hat sich nichts geändert. So ist bei Letzteren die Zahl der Planstellen zwar mehr oder weniger gleich geblieben, die Arbeit hat sich aber in den vergangenen Jahren drastisch verändert. Neue Felder wie die Bekämpfung des internationalen Terrors und Cybercrime sind dazugekommen. Zugenommen habe auch die inhaltliche Arbeit – Beispiel große Wirtschaftsprozesse. Für den Kampf gegen den Hass im Netz wurden 2017 fünf Planstellen zugesagt – dabei ist es aber auch geblieben.

"Es mangelt überall", stellt etwa auch Richterin Nicole Baczak nüchtern fest. Sie ist Betriebsausschussvorsitzende am Landesgericht für Strafsachen Wien. Besonders dramatisch sei die Situation bei den Schriftführern, die die Verhandlungen protokollieren: "Laut Stellenplan haben wir 17 Köpfe, da auch Teilzeitkräfte dabei sind, sind es real 15,7. Drei davon sind nur für das Buwog-Verfahren abgestellt, eine ist länger im Krankenstand, tatsächlich stehen also nur 11,7 Schriftführerinnen zur Verfügung." Im Alltag müssen diese Aufgaben nun Rechtspraktikantinnen übernehmen, die dafür aber eigentlich nicht ausgebildet sind.

400 Stellen eingespart

Der Personalstand bei den Büromitarbeiterinnen und -mitarbeitern und den Diplomrechtspflegern sieht generell traurig aus. Derzeit gibt es 5666 Vollzeitkräfte. In den vergangenen Jahren sind laut Justiz-Gewerkschafter Gerhard Scheucher rund 400 Stellen in den Gerichtskanzleien eingespart worden. Damit nicht genug, sei für das nächste Jahr im Budgetrahmengesetz die Streichung weiterer 169 Planstellen im Kanzleibereich festgeschrieben worden. Scheucher fordert nun die Rücknahme dieses Sparziels. Und dann kommt noch ein demografisches Problem hinzu: Alleine um die Pensionsabgänge der nächsten vier Jahre abdecken zu können, müsste es insgesamt 250 Ausbildungsplanstellen geben. Derzeit sind zirka 100 Diplomrechtspflegerinnen und -pfleger wie auch Bezirksanwälte in Ausbildung. Der Gewerkschafter fordert daher eine Ausbildungsoffensive mit weiteren 150 Stellen.

Für die Bürger ist die Personalnot in der Justiz längst auch an anderen Stellen spürbar geworden. So wurden etwa die Zeiten für den Parteienverkehr eingeschränkt. Ein Beispiel von vielen: das Service-Center im Straflandesgericht Wien. Dort wird seit einigen Wochen nicht mehr Montag bis Freitag von 7.30 bis 15.30 Uhr beraten, sondern an allen Tagen außer Mittwoch nur noch bis 14.00 Uhr. In der mit 1,75 Planstellen bedachten Anlaufstelle werden zum Beispiel Auskünfte gegeben, und man kann bei Voranmeldung Akteneinsicht nehmen. "Wir hätten Arbeit für drei bis vier Personen", sagt Gabriele Klaunig, die dort arbeitet. Ihre Arbeitstage beginnen um 6.00 Uhr in der Früh, sie bearbeite dann Mails und Faxe – eine Arbeit, die sie während der Öffnungszeiten nicht unterbringe. Es gebe 140 bis 185 Anfragen täglich. (red)

  • Asylverfahren belasten Bundesverwaltungsgericht

Die Zahl der Asylanträge ist nach dem Rekordjahr 2015 zwar wieder massiv gesunken, das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), bei dem beeinspruchte Asylanträge landen, spürt allerdings noch nichts von einem geringeren Arbeitsaufwand. Ganz im Gegenteil: Dem Tätigkeitsbericht für das Jahr 2018 ist zu entnehmen, dass – wie schon in den Jahren davor – mehr neue Fälle dazugekommen sind, als abgearbeitet werden konnten. Konkret wurden 29.200 Verfahren abgeschlossen, rund 34.100 wurden aber neu eröffnet. Mit Stichtag Ende Jänner, zu dem der Jahresbericht erstellt wurde, waren somit fast 40.000 Verfahren offen und in Bearbeitung.

Damit verbunden ist auch eine längere Verfahrensdauer, die Menschen müssen also länger auf die Entscheidungen des BVwG warten. In den vergangenen beiden Jahren haben bereits 53 Prozent der Verfahren länger als sechs Monate gedauert (in den Jahren davor waren es nur 45 Prozent). Trotz des erwähnten Rückgangs bei den neuen Asylanträgen (im ersten Halbjahr 2019 waren es nur mehr 5799) erwartet das Bundesverwaltungsgericht auch in den kommenden Jahren keine Entspannung.

Asyl auf Zeit

Grund dafür ist zum einen, dass es seit 2016 ein sogenanntes "Asyl auf Zeit" gibt. Das heißt, dass vorerst nur ein befristetes Aufenthaltsrecht auf drei Jahre gewährt wird. In weiterer Folge muss aber natürlich in einem neuen Verfahren überprüft werden, ob der Aufenthaltstitel verlängert wird. Der Fokus des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, dessen Mitarbeiterstand von 555 im Jahr 2014 auf heuer 1271 aufgestockt wurde, auf Aberkennung von Asyl und subsidiärem Schutz, Abschiebungen und aufenthaltsbeendende Maßnahmen sowie Schubhaft werde dazu führen, dass auch in den kommenden Jahren keine Trendumkehr stattfinden werde, erwartet das BVwG.

Die im Bundesfinanzrahmengesetz vorgesehenen personellen Einsparungen im Ausmaß von 120 Planstellen würden die Situation noch verschärfen, heißt es. Nicht zuletzt deshalb haben Standesvertreter bereits mehr Personal gefordert und wurden dabei auch von Ex-Justizminister Josef Moser unterstützt. Er hatte sich dafür ausgesprochen, 100 Mitarbeiter zusätzlich aufzunehmen. Aktuell gibt es 549 Planstellen. (go)


  • Übervolle Gefängnisse

Gefängnisse sollten eigentlich nicht nur dazu da sein, die Gesellschaft vor Straftätern zu schützen, sondern sie sollten auch Orte zur Resozialisierung sein. Die Rahmenbedingungen machen das aber nicht immer leicht, wie Experten seit Jahren beklagen. Viele Justizvollzugsanstalten – es gibt in Österreich 28 Gefängnisse plus zwölf Außenstellen – sind chronisch überbelegt.

Laut der Beantwortung einer aktuellen parlamentarischen Anfrage von SPÖ-Justizsprecher Hannes Jarolim durch Minister Clemens Jabloner wiesen zuletzt (Stand Februar 2019) zwölf von 40 Standorte einen Belagsstand von über 100 Prozent auf. Am größten war die Überbelegung in der Justizanstalt Wien-Josefstadt, die eigentlich für maximal 990 Häftlinge ausgelegt ist, in der aber tatsächlich 1148 Menschen untergebracht waren. Österreichweit lag die Auslastung bei 98,9 Prozent. Insgesamt gab es im Februar mehr als 9300 Insassen aus 103 unterschiedlichen Nationen, was die Kommunikation und somit die Arbeit der Justizwachebeamten erschwert. Es gibt zwar auch einige Standorte, die nur rund zur Hälfte ausgelastet sind (etwa Gerasdorf oder Wilhelmshöhe), das sei aber vor allem auf gelockerten Vollzug zurückzuführen, schreibt Jabloner in der Anfragebeantwortung.

66 Millionen fehlen

Der neue Minister teilte zuletzt mit, dass die nächste Regierung für den Strafvollzug mit einem finanziellen Mehrbedarf von rund 66 Millionen Euro rechnen müsse. Allein 21,8 Millionen Euro würden benötigt, um die angestrebte Personalaufstockung finanzieren zu können. Zusätzlich 23,8 Millionen Euro brauche man im Bereich des Maßnahmenvollzugs (geistig abnorme Rechtsbrecher) und die medizinische Versorgung von Insassen.

Unterstützung bekamen die Justizanstalten auch bereits von Ex-Minister Josef Moser. Er forderte im April, gemeinsam mit Ex-Vizekanzler Heinz-Christian Strache, 150 zusätzliche Justizwache-Planstellen (aktuell gibt es 4052 Bedienstete). Da Straches Ibiza-Video wenige Wochen später die türkis-blaue Koalition beendete, wurden die Budgetverhandlungen aber aufgeschoben. Mit der Frage, welche Ressourcen der Strafvollzug künftig tatsächlich zugeteilt bekommt, muss sich also die nächste Koalition auseinandersetzen. (go, 1.8.2019)