Chonchita oder nur Wurst auf dem 26. und letzten Wiener Life Ball im Juni 2019.

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Weil sie vielleicht zum letzten Mal zu erleben war, ging ich dieses Jahr zur Eröffnung des Life Ball auf dem Rathausplatz und war überwältigt von den TänzerInnen, SängerInnen, Kostümen und Conchita Wurst in allen Verkleidungen. Eine Woche später, bei der Regenbogenparade, war ich von der Vielzahl prächtig aufgeputzter und beinahe nackter Menschen überwältigt. Fast hätte ich einen der Männer gefragt, ob ich mit meinen Fingerspitzen über das krause Vlies auf seiner Brust streichen dürfe. Natürlich habe ich mir noch während dieses Gedankens den Kopf zerbrochen, ob das sexistisch ist. Einerseits wegen des erotischen Aspekts und andererseits, weil es ja ein spezifisch männliches Attribut war, das meine Aufmerksamkeit erregte.

Wollust und Teufel

Im Wort Sexismus steckt das Wort Sex. Und das zieht. Obwohl damit ursprünglich die Benachteiligung aufgrund des Geschlechtes im Arbeitsleben, in der Öffentlichkeit, in den Besitzverhältnissen, bei politischen Entscheidungen und im Familienleben gemeint war, hat mit der Deutung der sexuellen Belästigung als sexistische Handlung auch der Sex als Wollust Einzug gehalten. Und das zieht. Schon Friedrich Schiller dichtete: "Der Kunstgriff: Wollt ihr zugleich den Kindern der Welt und den Frommen gefallen? Malet die Wollust – nur malet den Teufel dazu!"

Es muss nicht gleich der Teufel sein, zur keuschen Beschäftigung mit der Wollust genügt es, eine Diätetik aufzustellen, was mit wem wie oft normal und was pervers ist. Barry D. Adam konstatierte 1995 in seinem Buch The Rise of a Gay and LesbianMovement: "For gay liberation, there was no 'normal' or 'perverse' sexuality, only a world of sexual possibilities ranged against a repressive order of marriage, oedipal families, and compulsory heterosexuality" (zit. nach Repnik, Ulrike: die geschichte der lesben- und schwulenbewegungin österreich, Milena-Verlag Wien 2006).

Als es keine Pornos gab ...

Homosexualität und Transidentität gelten inzwischen als normal. 1992 wurde Homosexualität aus dem ICD-Katalog, dem weltweiten Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen der WHO, gestrichen. Das gleiche Geschlecht sexuell zu begehren und diesem Begehren nachzugeben muss nicht mehr geheilt werden. Aber ganz kann man den Sex offenbar doch nicht der Heillosigkeit überlassen.

Auf der 72. Weltgesundheitsversammlung der WHO vom 20. bis 28. Mai 2019 in Genf wurde neben anderen Neuerungen beschlossen, unter dem Diagnoseschlüssel 6C72 zwanghaftes Sexualverhalten in den ICD11-Katalog aufzunehmen, der ab 2022 gelten soll. Und weil sich das Thema Sex gut verkauft, waren genau dieser Neuerung zahlreiche Artikel in Feuilleton und Boulevard gewidmet. Die Diagnose soll demnach gestellt werden, wenn Betroffene intensive, wiederkehrende Sexualimpulse über längere Zeiträume nicht kontrollieren können und dies ihr Familien- oder Arbeitsleben oder das Sozialverhalten beeinflusst. Der Wichser hinterm Busch? Mitnichten.

Pornosucht als sozialer Tod

"Professionelle Hilfe bei einem Sexualtherapeuten oder in einer Suchtberatung suchen Betroffene meist erst, wenn ihre Pornosucht, ihre Bordellbesuche oder ständigen Affären 'aufgeflogen' sind und sie deswegen den Arbeitsplatz oder Partner verloren haben. Dann beginnt ein oft recht mühsamer Weg aus der Sex-Sucht raus, hin zu einem 'normalen', erfüllenden Sex-Leben" (www.miss.at). Noch sind weder Pornokonsum noch Bordellbesuche noch Affären strafrechtlich relevant, aber wenn sie "auffliegen", kann das den Arbeitsplatz und die soziale Einbindung kosten.

Hatte man nicht bis vor relativ kurzer Zeit noch dasselbe Risiko, wenn "aufflog", dass man homosexuelle Kontakte hatte? Ich weiß, das ist ganz etwas anderes, aber ich bin nicht sicher, ob es das wirklich ist. Als es noch keine Internetpornos gab, wurde sexuelle Selbstbefriedigung pathologisiert und mit spinaler Muskelatrophie in Verbindung gebracht. Hände über der Bettdecke, lautete die Verhaltensanweisung. Sind Verhaltensanweisungen grundsätzlich etwas anderes als verhaltenstherapeutische Interventionen? Außer dass die Fachleute nicht mehr Pädagogen, sondern Therapeuten heißen?

Bin ich eine Frau? Bin ich ein Mann?

Im Zuge einer Recherche erzählte mir ein Aufräumtrainer, dass die erste Frage vieler KundInnen sei, ob ihr Verhalten bereits dem Messie-Syndrom zuzurechnen sei. Bin ich ein Messie? Bin ich schwul? Bin ich eine Frau? Bin ich ein Mann? Bin ich pervers? Bin ich sexsüchtig? Ist es Liebe? Alle diese Begriffe sind kulturelle Konstruktionen, sind Versuche, empirisch sinnliche Wahrnehmungen sprachlich mitteilbar zu machen.

Dabei ergeben sich zwingend Unschärfen. In Bezug auf die Liebe beispielsweise nicht nur ein Gestaltungsspielraum, sondern sogar das Gestaltungserfordernis, aus diesem zum Teil in sich widersprüchlichen Bedeutungskomplex jene/n Aspekt/e herauszufiltern, mit denen frau/man/trans sich identifiziert und die sie/er/x für die persönliche Lebensführung anwendet. Dieses Erfordernis ist einer heterogenen globalen Kultur geschuldet, kann aber auch nur in einer solchen eingelöst werden. Die WHO dagegen ist der Versuch einer weltweiten Homogenisierung mittels scheinbar neutraler medizinischer Begriffe.

Sieben Orgasmen pro Woche zu viel?

Kommen wir zurück zur Sexsucht: Ich entnehme der Flut von Artikeln, die sich dieser neuen Krankheit widmen, dass der Psychiater Martin Kafka von der Harvard Medical School Alfred Kinseys Definition der Hypersexualität aus dem Jahr 1948 für die Beurteilung zwanghaften Sexualverhaltens als psychische Störung übernommen hat. Die Pikanterie besteht darin, dass eben jene Hypersexualität im Jahr 2015 aus dem US-amerikanischen Klassifikationssystem der Psychiatrie Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) gestrichen wurde. Martin Kafkas Definition für zwanghaftes Sexualverhalten als psychische Störung lautet: Sieben Orgasmen pro Woche über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten.

Vielleicht bin ich naiv, man spricht ja nicht so direkt über seine sexuellen Gewohnheiten und Bedürfnisse, angeblich oft nicht einmal mit SexualpartnerInnen, aber nach meinen bescheidenen Kenntnissen dürfte diese Definition auf nicht wenige Adoleszente, die voll im Saft stehen, zutreffen. Und mit der Pathologisierung als einer zentralen Kulturtechnik der Gegenwart kann man die Betroffenen leicht verunsichern. Könnte es sein, dass daraus der Leidensdruck entsteht, der eine therapeutische Intervention erfordert? Wo vieles kriminalisiert wird, braucht es viele Polizisten, und wo vieles pathologisiert wird, viele Therapeuten. Was liegt im normalen Bereich, jenseits dessen mit Pathologisierung und sozialer Ausgrenzung sanktioniert wird?

Wo vieles pathologisiert wird ...

Trotz der gesetzlichen Gleichstellung homo- und heterosexueller Verbindungen werden immer noch Therapien zur Konversion Homosexueller angeboten. Sie sollen demnächst verboten werden. Warum dürfen sich Schwule und Lesben nicht therapeutisch begleiten lassen, wenn sie unter ihrer sexuellen Orientierung leiden? Weil der Leidensdruck durch gesellschaftliche Diskriminierung zustande kommt. Im Vorjahr erschien die deutsche Übersetzung von Garrard Conleys Buch Boy Erased, heuer dessen Verfilmung. Als Sohn eines Baptistenpredigers ging für ihn die Entdeckung seiner Homosexualität mit so viel Qual, Scham, Schuldgefühlen und sozialer Ausgrenzung einher, dass er sich 2004 mit 19 Jahren einem christlichen Umerziehungsprogramm von LIA (Love in Action) unterzog.

Dass es an seinem Begehren nichts änderte, lässt die Vermutung aufkommen, dass auch eine Therapie gegen Sexsucht nichts an der Art und Intensität des Begehrens Betroffener ändern würde. Bedrückend ist die Beschreibung der Gehirnwäsche im LIA-Camp allemal: Auf der untersten Stufe der Hierarchie stand das Mädchen S., das von seinen Eltern dabei erwischt worden war, wie es sich Erdnussbutter als Leckerli für seinen Hund auf die Vulva schmierte. Conley zitiert, was das Mädchen im Rahmen der Gruppentherapie zitternd von einem zerknitterten Papier ablas: "Ich bin eine sündhafte Beziehung mit einem anderen Mädchen eingegangen. Es war widerlich. Zurückblickend erkenne ich erst jetzt, wie widerlich es war. Deshalb – deshalb – . Sie hielt die Augen geschlossen. Ich denke, deshalb ist es so weit gekommen ... bis zum Hund."

Perversion negativ konnotiert

Auch wenn zu bezweifeln ist, dass diese Interaktion dem Mädchen oder dem Hund geschadet hat, ist kaum zu bestreiten, dass man sie mit dem Terminus pervers belegen dürfte. Ich wurde im Zug meiner Recherchen gewarnt: "Pass auf, dass du Homosexualität nicht mit Perversion in Verbindung bringst!" Perversion ist ein negativ konnotierter Begriff, der auf Homosexualität und Transgender nicht (mehr) angewandt werden darf. Auf Zoophilie und Fetischismus hingegen schon. Bis 1969 war in der Bundesrepublik Deutschland die sexualisierte Liebe unter Männern und die mit Tieren im gleichen Paragrafen, dem 175er, verboten. Österreich zog zwei Jahre später nach und strich den § 129 I. Mit dem 29. 12. 2012 wurde die sexualisierte Tierliebe, diesmal als Tierquälerei, wieder unter Strafe gestellt.

Es sollte nicht vergessen werden, dass die Streichung von Homosexualität als Krankheit aus dem ICD nicht aufgrund neuer medizinischer Erkenntnisse erfolgte, sondern auf politischen Druck! Mit Hund und Herrl verhält es sich nicht anders und auch nicht mit dem zwanghaften Sexualverhalten. Physische Folgeerkrankungen wie bei substanzgebundenen Süchten sind nicht feststellbar!

In dubio pro libidine. (Christa Nebenführ, 3.8.2019)