Das im Jahr 1945 gegründete Staatsarchiv ist für Historiker in aller Welt von unschätzbarem Wert. Hierzulande aber wird dies nicht wirklich erkannt.

Foto: APA

Angesichts jener 240 Regalkilometer an Dokumenten aus allen Zeiten, die das Staatsarchiv verwahrt, wird die verschriftlichte Hinterlassenschaft der Regierung Türkis-Blau I wohl dereinst nur eine Fußnote der Geschichte sein – in Bedeutung wie Menge. Und doch stellt sich die Frage, ob in der Schredder-Affäre nicht gerade jenes Material dem Reißwolf übergeben worden sein könnte, für das sich Historiker einmal interessiert hätten: in 25 Jahren frühestens, wenn die Versiegelung von Staatsdokumenten – wie im Archivgesetz vorgesehen – endet und die wissenschaftliche Sichtung erfolgen kann.

Die leidende Institution

Das dürfte, wie nun bekannt wurde, schwierig werden. Denn die türkise Regierungsspitze im Bundeskanzleramt (BKA) entschied anders, handelte mutmaßlich sogar gesetzeswidrig, indem sie jene fraglichen Festplatten nicht dem Staatsarchiv zur Verwahrung anbot, sondern für deren Vernichtung sorgte. Die Affäre wirft aber nicht nur ein schiefes Licht auf die Politverhältnisse der jüngsten Vergangenheit; sie zeigt auch, welchen Umgang das BKA mit dem ihm unterstellten Staatsarchiv im Generellen pflegt: Seit Jahrzehnten, meinen Experten, leide die Institution unter der Geringschätzung seitens der Politik.

Dabei zählt das 1945 gegründete Staatsarchiv zu den wichtigsten Gedächtnisspeichern Europas. Es beherbergt nicht nur das Schriftgut der Zentralbehörden der Ersten und Zweiten Republik sowie der österreichischen NS-Zeit, sondern auch jenes der Habsburger-Monarchie und des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Für Historiker ist es von unschätzbarer Wichtigkeit und müsste die Politik ebenso sehr mit Stolz erfüllen wie etwa das Kunsthistorische Museum.

Der Personalmangel

Thomas Winkelbauer, Direktor des Instituts für Österreichische Geschichte an der Uni Wien, kennt die Situation als Forschender. In einem Gastbeitrag für die "Presse" hat er kurz vor der Schredder-Affäre auf die prekäre Lage des Archivs hingewiesen: Seit Jahren herrsche etwa Personalnotstand. Hätten dort im Jahr 2000 noch 150 Leute gearbeitet, seien es heute nur noch 100. Brauchen würde man laut Winkelbauer mindestens 200 – andere Staatsarchive, wie in Belgien oder Ungarn, erreichen diese Zahl. Anstatt qualifiziertes Personal einzustellen, betrachte man das Staatsarchiv mitunter als Abstellgleis, sagt Winkelbauer zum STANDARD.

Ungeeignete Personen

"Es gab Fälle, wo ungeeignete Personen, die man im BKA nicht mehr gebraucht hat, ins Staatsarchiv abgeschoben wurden." Die Digitalisierung gehe zu langsam voran, und "seit Jahrzehnten beklagen sich internationale Forscher, dass die Benützungszeiten im internationalen Vergleich völlig unzureichend sind – ohne jeden Erfolg, die Öffnungszeiten der Lesesäle sind vielmehr vor eineinhalb Jahren weiter verkürzt worden."

Unterschreiben kann die Kritik auch Karin Sperl, Präsidentin des Verbands der Österreichischen Archivare (VÖA). Sie findet es "bedauerlich, dass seitens der Politik und Verwaltung Angst und Misstrauen gegenüber den Archiven herrschen, dass Dinge an die Öffentlichkeit gelangen könnten".

In Deutschland hätten die Archive zum Teil ein besseres Standing, man sei sich der Bedeutung mehr bewusst. Für die hiesige Kulturpolitik seien die Archive hingegen ein Randthema: "Wenn wir aufschreien, dann ist das lediglich nett." Verschärfend kommt hinzu, dass das Staatsarchiv aktuell ohne reguläre Leitung dasteht. Ende Mai ging der Historiker Wolfgang Maderthaner in Pension.

Die Verzögerung

Eine Ausschreibung war unter Ex-Kulturminister Gernot Blümel (ÖVP) zwar erfolgt, zur Bestellung eines Chefs kam es aber wegen des Regierungsbruchs nicht. Blümels Wunschkandidat, der Historiker und VP-nahe Beamte Helmut Wohnout, soll beste Chancen gehabt haben. Winkelbauer plädiert aber für eine Entpolitisierung. Er stößt sich daran, dass für die Leitung keine fachliche Archivar-Ausbildung gefordert sein soll.

Der SP-nahe Maderthaner und dessen möglicher VP-punzierter Nachfolger Wohnout seien zwar auf ihren Gebieten "hervorragende Historiker, aber keine Archivare". Außerdem solle man über eine Herauslösung des Archivs aus dem BKA nachdenken. Es brauche mehr Unabhängigkeit. Übergangskulturminister Alexander Schallenberg will sich zu den strukturellen Problemen im Staatsarchiv indes nicht äußern.

Es bleibt interimistisch

Der Ausschreibungsprozess sei gesetzeskonform eingehalten worden, heißt es auf STANDARD-Anfrage, die Bewerbungen würden "von einer Begutachtungskommission zu beurteilen und eine Empfehlung der/des bestgeeigneten Bewerbers/in abzugeben sein". Dieses Verfahren sei derzeit noch nicht abgeschlossen. Alles Weitere würde der neuen Bundesregierung obliegen.

Und das kann dauern. Bis es so weit ist, wird das Archiv interimistisch von dem selbst kurz vor der Pensionierung stehenden Beamten Manfred Fink geleitet. Im Staatsarchiv selbst wollte man Fragen zum Zustand der Einrichtung vorerst nicht beantworten. (Stefan Weiss, 5.8.2019)