Frage: Die indische Zentralregierung hat am Montag per Dekret des Präsidenten den Sonderstatus für die nördliche Unruheregion Kaschmir aufgehoben. Mehrere Regionalpolitiker wurden am Montag unter Hausarrest gestellt, Demonstrationen verboten, Telefon- und Internetdienste sollen eingeschränkt worden sein. Welche Rechte sind davon nun betroffen?

Antwort: Manche der Privilegien, die in dem heutigen Bundesstaat Jammu und Kaschmir auf ein Gesetz des damaligen Maharadschas aus dem Jahr 1927 zurückgehen, haben vor allem repräsentative Relevanz. Jenes etwa, wonach die Region eine eigene Fahne auf die Masten ziehen darf. Deren rote Farbe symbolisiert das Blut der Aufständischen aus dem Kampf gegen die hinduistische Dogra-Dynastie, die 1931 einem Massaker zum Opfer gefallen sind.

Bis auf die Außen-, Verteidigungs- und Telekommunikationsagenden wird die Politik im indischen Teil von Kaschmir gemeinhin nicht vom 800 Kilometer entfernten Delhi aus bestimmt, sondern in den beiden Regionalhauptstädten Srinagar (im Sommer) und Jammu (im Winter). Gleichzeitig herrscht seit Beginn eines bewaffneten Aufstands 1989 aber auch eine erhöhte Armeepräsenz, und seit 2018 wird die Region zudem übergangsweise direkt von Delhi aus regiert.

Wichtiger sind aber die realpolitischen Dimensionen der Artikel 370 und 35A der indischen Bundesverfassung: Die Regierung darf selbst bestimmen, wer ein sogenannter "dauerhafter Einwohner" ist. Deren wichtigstes Privileg ist das Recht, im Bundesstaat Land zu besitzen – und zu kaufen. Bisher waren diesen "dauerhaften Einwohnern" zudem Regierungsjobs und Ausbildungsstipendien vorbehalten.

Die Region liegt an der Nahtstelle der Atommächte Indien, Pakistan und China.
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Frage: Warum ist dieses Recht für die Fürsprecher der kaschmirischen Autonomie so wichtig?

Antwort: Als einzige indische Region mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit – und zudem an der Grenze zum muslimischen Erzfeind Pakistan gelegen –, treibt viele Kaschmirer seit jeher die Sorge um, die Region könnte durch den Zuzug von Indern aus dem Süden ihren Charakter einbüßen. Tatsächlich stand diese Angst schon 1927 hinter der Initiative des Maharadschas, den Zustrom aus dem Nachbarstaat Punjab per Gesetz zu untersagen.

Nach der Gründung des modernen Indien 1947 – und jener des modernen Pakistan im selben Jahr – fand das Gesetz 1954 auch Widerhall in der indischen Verfassung. Der Artikel 370 garantierte bis Montag die Sonderrechte des Bundesstaates Jammu und Kaschmir.

Sicherheitskräfte bereiten sich auf Ausschreitungen in der Hauptstadt Srinagar vor.
Foto: Tauseef MUSTAFA / AFP

Frage: Warum fällt dieser Schritt der Bundesregierung gerade jetzt?

Antwort: Der hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP von Ministerpräsident Narendra Modi sind die Sonderrechte von Jammu und Kaschmir schon seit längerem ein Dorn im Auge. Schon vor seiner Wiederwahl im Mai plädierte Modi für die "volle Integration" der Region in den indischen Zentralstaat. Entgegen der Einschätzung von Analysten, die eine weitere Destabilisierung der ohnehin krisenhaften Grenzregion fürchten, hat sich nun eine Mehrheit im indischen Unterhaus Rajya Sabha gefunden, die Autonomie von Jammu und Kaschmir aufzuheben. Auch eine Aufteilung des Bundesstaats in zwei Territorien steht im Raum.

"Die gesamte indische Verfassung wird künftig auch in Jammu und Kaschmir gelten", erklärte Innenminister Amit Shah im Anschluss an die Abstimmung im Parlament den vermutlich folgenschwersten Kurswechsel der indischen Regierung in sieben Jahrzehnten.

Regierungschef Modi hat den Schritt lange angekündigt.
Foto: Prakash SINGH / AFP

Frage: Wie reagieren politische Würdenträger in Kaschmir?

Antwort: Mehbooba Mufti, die von 2016 bis 2018 als Chief Minister Regierungschefin der Region war, sprach auf Twitter vom "dunkelsten Tag der indischen Demokratie" und "katastrophalen Konsequenzen". Wenig später wurde sie, so wie andere Führungsfiguren der regionalen Elite, unter Hausarrest gestellt. Mufti, die bis zum Vorjahr in einer Koalition mit Modis BJP regiert hatte, beschrieb die Situation als "ironisch", schließlich stünden nun genau jene gewählten Abgeordneten unter Arrest, die stets für Frieden gekämpft hätten.

Auch Omar Abdullah, ebenfalls ehemaliger Chief Minister, dürfte festgesetzt worden sein. In einem Statement sprach er von "Betrug" am kaschmirischen Volk und rief zur Ruhe auf.

Frage: Sind Unruhen zu befürchten?

Antwort: Tausende Soldaten wurden schon vor dem Parlamentsbeschluss nach Srinagar gebracht, die indische Armee und die Luftwaffe stehen unter erhöhter Alarmbereitschaft. Jegliche Versammlung wurde verboten, die Schulen und Universitäten in Srinagar geschlossen. Am Freitag erst hatte die indische Regierung mit einer Terrorwarnung aufhorchen lassen, tausende indische Touristen hatten die Region daraufhin panikartig verlassen.

Pakistan, das sich traditionell als Schutzmacht der muslimischen Kaschmirer versteht und Anspruch auf das Gebiet erhebt, will sich "alle Optionen" offenhalten, wie die Regierung in Islamabad am Montag erklärte. (flon, 5.8.2019)