Historisch informierte Regiepraxis in Innsbruck.

Foto: Innsbrucker Festwochen

Die Vergangenheit ist ein Ozean, in dem neben unkaputtbaren Tonkonserven auch rare Klangschätze zu finden sind. Fischte der künstlerische Leiter Alessandro De Marchi etwa vor Jahren Nicola Porporas Il Germanico aus den Tiefen des Vergessens, präsentierte der Römer zu Beginn der Festwochen Alter Musik das Werk eines Zeitgenossen Porporas und Mitgestalter des Neapolitanischen Opernstils: La Merope von Riccardo Broschi, des älteren Bruders von Carlo Broschi, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Farinelli.

Worum geht es in dem 1732 uraufgeführten dramma per musica? Natürlich erst einmal um die Titelfigur Merope, die Witwe des Königs von Messenien, Cresfonte. Weil das Schicksal in Barockopern eine Domina ist, die lustvoll mit ihrer Peitsche knallt, muss die Arme einiges erdulden: Zehn Jahre, nachdem der böse Polifonte ihren Mann und zwei ihrer Kinder von seinem Handlanger Anassandro hat ermorden lassen, soll Merope den Usurpator auch noch heiraten. Als ihr tot geglaubter Sohn Epitide unter falschem Namen auftaucht, lässt sie ihr eigen Fleisch und Blut auch noch um ein Haar ermorden: grausame Götter! Wenn das nicht Anlass zu großen Gefühlen und noch größeren Gesten gibt, was dann?

Große Gesten und gestrige Gesichter

Und die großen Gesten, sie sind auch ausgiebig zu bestaunen im Landestheater. Begaben sich die Festwochen jahrzehntelang auf die Suche nach dem verlorenen Klang, so verhelfen sie hier auch Bühnenwelten von damals zu einer szenischen Renaissance. Brillierte im Wiener Raum zuletzt Bernd R. Bienert mit seinem Teatro Barocco auf dem Gebiet des historisch informierten Inszenierens, so wurden in Innsbruck Sigrid T’Hooft (Regie) und Stephan Dietrich (Bühnenbild und Kostüme) beauftragt, Gesten, Gesichtsausdrücke und Gewänder auf gestrige Art in Szene zu setzen.

Gelang eindrucksvoll: Auf einer Guckkastenbühne stehen Säulen, die Palaiskuppeln tragen, in perspektivischer Verjüngung Spalier. In den handgemalten Grisaille-Kulissen ereignen sich exaltierte Emotionsäußerungen und dramatische Augenaufschläge, wie sie nach den Stummfilmzeiten nur noch von Drag Queens gepflegt werden. Die luxuriösen Roben werden von einem prachtvollen, gefiederten Kopfschmuck gekrönt. Die Merope wird von Anna Bonitatibus gegeben, sie präsentiert ihren schokoladedunklen Mezzo auf eine fast männlich-herbe Art. Schade, dass Rache, dass die große Szene nicht ihres ist, mit manchem Pianissimo lässt sie aufhorchen.

David Hansen bewältigt die umfangreiche Partie des Epitide mit seinem weichen Counter souverän, aber etwas gleichförmig; die Wut-Arie im 2. Akt gelingt ihm furios. Doch seine Kollegen im Falsettfach fesseln mehr: Hagen Matzeit verleiht Botschafter Licicso mit seinem intensiven Stimmtimbre Prägnanz, Filippo Mineccia ist als Superbösewicht Anassandro mit seinem Vincent-Gallo-Look und seinem zu Schärfe wie zu diabolischem Säuseln fähigem Counter ein charismatischer Aktivposten der Szene.

Blasser Beginn, zügige Tempi

So auch Vivica Genaux, die den Ratsvorsitzenden Trasimede mit einer an Cecilia Bartoli erinnernden Intensität gestaltet. Arianna Vendittelli bezirzt als Prinzessin Argia mit den solistischen Ausschmückungen ihrer Arien, Carlo Allemano gestaltet den Polifonte aus dem Orchestergraben mit geschmeidiger Tenorverve. Schade, dass der Möchtegernkönig auf der Bühne (von Daniele Berardi) eher als komische Figur dargestellt wird. Nach einem blassen Beginn gefallen De Marchi und das neu gegründete Innsbrucker Festwochenorchester mit zügigen Tempi und galantem, biegsamen Parlando. Das Publikum, darunter Kanzlerin Brigitte Bierlein und Krimi-Doyenne Donna Leon, reagiert auf die fünfeinhalbstündige Zeitreise größtenteils enthusiastisch. (Stefan Ender, 8.8.2019)