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Toni Morrison im Jahr 1994 in New York, kurz nachdem sie den Literaturnobelpreis bekommen hat.

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Toni Morrison bei den Glamour Women of the Year Awards in New York im Jahr 2007.

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Lange, bevor Afroamerikanerinnen wie Toni Morrison endlich voller Selbstvertrauen das Wort ergriffen und in Literatur verwandelten, war es ausschließlich im Besitz der Weißen gewesen. Die Betrachtungsweisen weißer US-Sklavenhalter lehrten die systematisch Unterdrückten, nicht nur anspruchslos und lammfromm zu sein, sondern sich selbst auch noch gering zu schätzen.

In ihren Harvard-Vorlesungen hat Morrison, Literaturnobelpreisträgerin von 1993, die Praktiken der Entmenschlichung zusammengefasst, mit deren "Hilfe" man den Apparat der Unterdrückung konstruierte. Die Verunglimpfung der "Negerrasse" schloss Merkmalsbestimmungen wie "natürliche Trägheit" und "geistigen Halbschlaf" ein. Mit der Akribie eines Michel Foucault hat die Autorin anhand einschlägiger Zeugnisse die Praktiken rekonstruiert. Und nachgewiesen, dass der Rassismus noch das Selbstbild der Ausgebeuteten unwiderruflich zerstört.

Gewirr von Stimmen

Morrison, selbst aus dem Bundesstaat Ohio gebürtig, hat von der oralen Überlieferung ihrer Vorfahren gezehrt. Ihre etwa seit 1970 einsetzende Betätigung als Romanschriftstellerin – vorher war sie u.a. als Lektorin bei Random House – kann heute als epochale Aufhebung (im mehrfachen Wortsinn) von William Faulkners Prosagebirge aufgefasst werden.

Wieder meint man, in ein Gewirr von Stimmen einzudringen. Man glaubt, in das Bewusstsein auch solcher Menschen einzutauchen, die im Grunde kaum wissen (können), wie und was mit ihnen geschieht. Und doch ist alles anders gegenüber den schwarzen, marginalisierten Bewohnern von "Yoknapatawpha County", dem schwülen Südstaatenreservat von Faulkners Gnaden.

Fantastische Erzählelemente

Morrison hat das Spukhafte einer meistenteils unterdrückten Überlieferung betont. Sie hat realistische mit fantastischen Erzählelementen bunt durcheinandergeworfen (etwa in "Menschenkind", auf Deutsch 1989), um das Unheimliche, auch das Unerhörte einer meistenteils zum Schweigen verurteilten Redeweise hörbar zu machen.

Der Stimmenwirrwarr in ihrem famosen Roman "Jazz" (dt. 1993) gibt nicht nur die Verschmelzung im New Yorker Stadtteil Harlem wieder; in Rückblenden gerät noch einmal die Aufhebung der Sklaverei in den Blick. Die feinen harmonischen Abstufungen der Jazz-Musik stehen für die widersprüchlichen, auch unheilvollen Empfindungen einer unvorbereitet in die Freiheit entlassenen Menschheit.

Jahrhundertautorin

Morrison hat sogar den Mut besessen, den Spieß umzudrehen und die niederschmetternde Idee der "Blutreinheit" in "Paradies" (Deutsch 1999) in den afroamerikanischen Kontext zu stellen. Wie in einem Kaleidoskop treffen Splitter einer patriarchalischen Gesinnung auf Morrisons Talent, Spiritualität und Weiblichkeit ganz ohne Kitsch zu inszenieren.

Und so stößt man in diesem erschütternden Werk immer wieder auf Afroamerikaner beiderlei Geschlechts, die durch ein ihnen feindlich gesonnenes Amerika torkeln und aneinander festhalten – eine Art trotziger Solidarität üben im Licht der Zuneigung, die ihnen diese Jahrhundertautorin geschenkt hat. Die nicht viele Worte machen und doch die Beredtheit ihrer Schöpferin auf ihrer Seite haben.

Höchste Auszeichnung der USA

Noch 2018 gab Morrison dem STANDARD ein Interview, in dem sie daran erinnerte, dass die USA "von Weißen für Weiße gegründet" wurden, und man noch weit entfernt sei vom "Ende von Rassismus und Hass". US-Präsident Donald Trump bezeichnete sie als "rassistischen Vollidioten mit orangen Haaren" oder als "historische Entgleisung", die sie gerne noch hätte überleben wollen.

Hoffnung versprach sich Morrison von Bewegungen wie Black Lives Matter, mit Ex-Präsident Barack Obama verband sie eine Freundschaft. Dass ausgerechnet er als erster schwarzer Präsident es war, der ihr 2012 mit der Freiheitsmedaille die höchste Auszeichnung der USA überreichen konnte, gilt als Triumph.

Elf Romane hat Toni Morrison der Welt geschenkt. "Menschenkind" wurde sogar von Jonathan Demme verfilmt. Die langjährige Lehrerin der Princeton University ist jetzt 88-jährig in New York gestorben. Ihre Familie zeigt sich dankbar, dass sie ein "langes, gutes Leben gelebt hat". (Ronald Pohl, 6. 8. 2019)